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"Natur oder Umwelt?": Die falsche Frage  
  Was macht Männer zu Männern und Frauen zu Frauen, die Natur oder die Umgebung? In der alten Debatte scheint das Pendel in letzter Zeit dank einer Reihe von populären Büchern wieder in Richtung "Natur" auszuschlagen. Anne Fausto-Sterling hält diese Gegenüberstellung prinzipiell für die falsche Frage. Die renommierte US-Biowissenschaftlerin und Gender-Theoretikerin bevorzugt einen anderen Ansatz: eine dynamische Systemtheorie, in der biologische Körper mit ihrer sozialen oder kulturellen Umwelt in Wechselbeziehung zueinander stehen.  
Die Betonung von Unterschieden der Geschlechter findet sie folglich wissenschaftlich uninteressant.

Entscheidend sei es, wie sich Frauen zu Frauen und Männer zu Männern entwickeln, betonte sie in einem Interview mit science.ORF.at.
science.ORF.at: Ihre zwei Hauptforschungsobjekte sind Plattwürmer und Menschen. Welche der beiden sind Ihnen lieber?

Ich denke die Menschen, weil ich mich in den vergangenen Jahren immer mehr mit ihnen beschäftigt habe. Die Plattwürmer sind heute eher mein Hobby. Begonnen habe ich meine Laufbahn als Forscherin mit Studien zur Fruchtfliege, erst dann kamen die Würmer. Ich habe aber auch schon sehr früh über die Entwicklung des Menschen geschrieben, es gab also Überschneidungen.
Was haben Plattwürmer und Menschen gemeinsam und worin unterscheiden sie sich?

Gemeinsam ist ihnen die Entwicklung, beide beginnen ihr Leben als Embryonen und entwickeln sich dann zu Erwachsenen. Dann haben beide ein Nervensystem, beide antworten auf ihre Umwelt und lernen. Plattwürmer sind aber natürlich viel einfachere Organismen als Menschen, ihr Lernniveau ist viel geringer und ihr Sexleben viel variabler. Sie können sich ohne Sex oder mit Sex reproduzieren, zum Teil parthogenetisch, d.h. nur durch Weibchen, zum Teil heterosexuell, also das, was wir normalerweise unter "sexuell" verstehen.
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Vortrag in Wien
Anne Fausto-Sterling nimmt am Workshop 'Gender meets Body' an der Uni Wien teil und hält dort den Vortrag "Reformulating the Nature/Nurture Opposition in Scientific Studies of Race, Gender and Sexuality".
Zeit: 10.5.07, 17 Uhr
Ort: Aula, Universitätscampus Altes AKH, Spitalgasse 2, 1090 Wien
->   Programm
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Nach der großen Welle an Texten zur Dekonstruktion von Autorinnen wie Judith Butler scheint es nun die Renaissance eines Denkens zu geben, das wieder mehr die "natürlichen" Unterschiede zwischen den Geschlechtern betont - ich denke etwa an das Buch "Das weibliche Gehirn" von Louann Brizendine, das sowohl in den USA als auch in Europa sehr erfolgreich war und die Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Hirn festmacht.

Zu allererst: Judith Butler macht ernsthafte akademische Arbeiten, Louann Brizendine ist eine populäre Autorin, deren Werk von akademischen Ungenauigkeiten strotzt. Man sollte die beiden nicht im gleichen Atemzug nennen. Aber es stimmt schon, es gibt heute einen Rückschlag im Diskurs. Bis vor kurzem betonten Texte zur Dekonstruktion und sozialen Konstruktion mehr die "nurture"-Seite der alten Debatte um die Entwicklung des Menschen. Und jetzt gibt es eine Gegenbewegung sowohl im akademischen Diskurs als auch in der populären Literatur.

Das Tauziehen um "Natur oder Umwelt" hat eine sehr lange, hunderte Jahre lange Tradition. Ich frage mich aber: Wenn das wirklich die richtige Art ist, sich dem Problem zu nähern, warum hat eine der beiden Seiten dann nicht schon längst gewonnen? Meine Antwort darauf ist, dass es schlicht der falsche Weg ist, sich dem Problem zu stellen. Ich glaube nicht, dass man Organismen so leicht trennen kann in Teile, die durch ihre Natur und jene, die durch ihre Umwelt, charakterisiert sind. Sie sind immer simultan und gleichzeitig zu 100 Prozent nature und nurture. Um die Entwicklung von Lebewesen zu verstehen, brauchen wir ein dynamisches Erklärungsmodell und keine statisches, das uns immer zu solchen falschen Oppositionen führt und in analytische Sackgassen.
->   Ein weiteres Beispiel: Jungenten (Audio)

Die Hände von M.C. Escher
Um diese zu überwinden haben Sie den Ansatz der "dynamischen Systemtheorie" gewählt, der zwischen nature und nurture liegt. Können Sie kurz erklären, worin der besteht?

Zu dem Ansatz hat eine Reihe von Ideen beigetragen aus der mathematischen Biologie, der Kybernetik, der Neurobiologie, den Computerwissenschaften und anderen. Zentral ist, dass der menschliche Organismus, gleichgültig ob es seine Physiologie oder sein Verhalten betrifft, immer im Fluss und in Interaktion mit seiner Umwelt besteht. Und zwar so, dass man diese Umgebungen nicht vom Körper trennen kann. Zur Illustration des Gedankens verwende ich gerne ein Bild von M.C. Escher, das zwei Hände zeigt, die sich gegenseitig zeichnen. So sehe ich auch das Verhältnis von nature und nurture. Hier kann man nicht sagen, welcher der beiden Seiten wichtiger ist.

Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung von Knochen. Man glaubt ja, dass Knochen prinzipiell sehr stabil und hart sind, und doch spiegeln sie unsere Kultur. Zum einen tauschen sich die Knochenzellen alle zehn Jahr zu 100 Prozent aus, zum anderen entwickeln sich Knochen nach ihrem Gebrauch, nach der Art, wie wir sie benutzen, was wir arbeiten und essen, wie viel Sonnenlicht wir ausgesetzt sind usw. Alle diese Faktoren bestimmen Zeit unseres Lebens die Eigenschaften unserer Knochen. Etwas sehr Stabiles in unserem Körper entwickelt sich in ständiger Dynamik mit unseren Erfahrungen. Das gleiche gilt auch für unser Verhalten, das durch das Gehirn vermittelt wird: Auch das Gehirn entwickelt sich in Antwort auf konkrete Erfahrungen, und zwar viel variabler und plastischer als man das früher angenommen hat.
Wie kann man diese dynamische Interaktion studieren?

Voraussetzung ist es den Gedanken aufzugeben, dass unserer Gehirn oder unser Körper jemals statisch ist. Mein Ansatz betrachtet ihren Zustand als "stabiles Gleichgewicht": In manchen Lebensabschnitten befinden wir uns in einem solchen Gleichgewicht mit der Umgebung, aber das heißt nicht, dass das immer so ist. Es können Dinge passieren, die das System destabilisieren, und an einem anderen Punkt, in anderer Weise wieder zu einem stabilen System machen. Genau diesen Fragen geht mein Forschungsansatz nach: Wie kommt es zu einem stabilen Gleichgewicht, wie wird es gestört, wie wieder errichtet? Das sind ganz andere Fragen als z.B. "Was ist typisch männlich oder weiblich."
Halten Sie diese Gegenüberstellung von nature und nurture also für obsolet?

Ja, und diese Botschaft möchte ich in den nächsten Jahren auch so gut ich kann verbreiten, auch wenn meine Begriffe komplex sind. Es ist viel einfacher zu sagen, "Sie oder er hat die Gene der Mutter geerbt". Weil die Familie emotional für uns so wichtig ist, kann ich das zwar verstehen, der dynamische Ansatz erklärt aber viel besser, wird auch in den unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen immer wichtiger, in der Psychologie, speziell aber in der Biologie.

Als Weg, komplexe Interaktionen in einzelnen Zellen zu analysieren, ist er zu einem wichtigen Zweig der Biologie geworden. In der Molekularbiologie wird er im nächsten Jahrzehnt vermutlich dominieren. Eine zentrale Frage für mich besteht darin, ob wir die richtigen Worte finden, um diese Sachverhalte jenseits der Experten auch an ein breiteres Publikum vermitteln können.
Wir können es ja gleich versuchen. Oft kommt beim "breiten Publikum" die verkürzte Botschaft an, dass es "Frauen" und "Männer" einfach nicht "gibt", was der Erfahrung der meisten doch widerspricht. Was wären also die von Ihnen geforderten "richtigen Worte"?

Ich weiß nicht, ob das funktioniert, aber ich würde sagen: Männer und Frauen entwickeln sich, sie erscheinen nicht plötzlich. Wenn mir jemand sagt, Männer "sind" in gewissen Eigenschaften anders als Frauen, bezeichne ich das als Athene-Syndrom. Frauen tauchen demzufolge mit all ihren Eigenschaften auf, so wie Athene in voller Rüstung dem Kopf von Zeus entsprungen ist.

Ich glaube hingegen, dass das eine Frage der Entwicklung ist. Die interessante Aufgabe für die Wissenschaft ist es nicht, Unterschiede zwischen Männern und Frauen festzustellen, sondern zu fragen, wie sich diese Unterschiede entwickelt haben.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 10.7.07
->   Anne Fausto-Sterling, Brown University
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
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01.01.2010