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Kindstötung bei Schimpansen: Auch Weibchen tun es  
  Die Kindstötung gehört zu den dunklen Seiten der Soziobiologie, aber sie ist Realität. Sie wurde bei Schimpansen und einigen anderen Arten - etwa Löwen, Vögeln und Nagetieren - beobachtet, galt bislang jedoch als Besonderheit männlicher Tiere. Stimmt so nicht, meinen nun Verhaltensforscher: Auch Schimpansenweibchen töten die Nachkommen von Artgenossen, und zwar durchaus mit System.  
Dabei dürfte es sich um eine Reaktion auf erhöhte Konkurrenz zwischen den Weibchen handeln, vermutet Simon W. Townsend von der University of St. Andrews.
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"Female-led infanticide in wild chimpanzees" von Simon W. Townsend et al. ist in "Current Biology" (Bd. 17, R355) erschienen.
->   Zur Studie
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"Mord" im Nationalpark
Im Jahr 1976 schrieb die britische Schimpansenforscherin Jane Goodall einen Brief an ihre Familie, in dem sie von einem "barbarischen Mord" im Gombe-Nationalpark, Tansania, berichtete. Das Schimpansenweibchen "Passion" und ihre Tochter, "Pom", hatten das drei Wochen alte Kind eines anderen Weibchens entführt, zu Tode gebissen und die Leiche dann aufgefressen.

Das war bereits der zweite Kindesmord, den das Duo im Lauf der Jahre begangen hatte - und es sollte mindestens noch einer folgen. Passion und Pom töteten insgesamt drei Kinder, höchstwahrscheinlich auch ein viertes, einige andere Male wurden ihre Attacken in Tötungsabsicht vereitelt.

Einmal von Goodall persönlich, die die beiden Schimpansenweibchen anbrüllte und mit Steinen und Stöcken nach ihnen warf (Folia Primatologica 28, 259). So aufreibend kann Verhaltensforschung sein.
Ausfall oder Anpassung?
Früher wurde die Kindstötung, auch Infantizid genannt, als pathologische Ausfallserscheinung betrachtet. Tiere, die die Nachkommen von Artgenossen umbringen, müssen krank sein, lautete die Überlegung jener Verhaltensforscher, die noch in Kategorien wie "Arterhaltung" dachten.

Später, nach der soziobiologischen Wende, rang man sich zu der Ansicht durch, dass dahinter durchaus Methode stecken könnte. Übernimmt beispielsweise ein Löwe die Führungsposition in der Gruppe, kommt es häufig vor, dass er die Kinder seines Vorgängers tötet. Dadurch werden die Weibchen schneller begattungsbereit und meist auch früher schwanger. Was wiederum dem individuellen Fortpflanzungserfolg des Alphamännchens zu Gute kommt.

Das ist im Übrigen kein Einzelfall: Ähnliche Strategien kennt man auch bei einer Reihe anderer Tierarten, etwa bei Schlankaffen und Spatzen.
Konkurrenz unter Weibchen
Allerdings galt die Kindstötung bislang eher als Männerdomäne. Bei Schimpansen etwa sind die Männchen häufig in Rangkämpfe verstrickt, während die Weibchen ein ziemlich egalitäres Dasein zu führen scheinen. Verhaltensforscher haben oft Schwierigkeiten, Schimpansenweibchen überhaupt einen sozialen Rang zuzuordnen, weil sie untereinander so wenig Aggressions- und Unterwerfungsgesten zeigen.

Jahrzehntelange Beobachtungen zeigen jedoch, dass auch sie eine Hierarchie kennen. Wie Jane Goodall in den 90er Jahren herausfand, konsumieren höherrangige Weibchen Futter höherer Qualität, sie verlieren auch saisonal weniger Gewicht, werden öfter schwanger und bringen mehr Jungtiere über die Runden. Die Konkurrenz zwischen Weibchen mag zwar auf den ersten Blick schwer zu erkennen sein, vorhanden ist sie dennoch (Science 277, 828).
Neue Fälle von Kindstötung
Dazu passt eine Beobachtung, die Primatenforscher um Simon W. Townsend im Budongo-Wald in Uganda gemacht haben. Zwischen 2004 und 2006 ereigneten sich dort offenbar drei Fälle von Kindstötung, die allesamt auf das Konto von Weibchen gingen.

Der entscheidende Punkt dabei: Die Tötungen fanden am Schluss einer jahrelangen Einwanderungsperiode statt, die das Geschlechterverhältnis von Männchen und Weibchen kontinuierlich verschob, zuletzt betrug es nur mehr eins zu drei.

Townsend interpretiert die Vorfälle im Budongo-Wald als Ausdruck der erhöhten Konkurrenz zwischen Weibchen, insbesondere um Nahrung und Sexualpartner.
Suche nach der richtigen Deutung
Das steht im Gegensatz zu einer Deutung, die die US-Psychologin Anne Campbell vor einigen Jahren angeboten hat: Sie meinte, dass von Schimpansenmännchen betriebener Infantizid - obgleich unerfreulich - durch die Selektion gefördert werde. Im Fall von Weibchen handle es sich hingegen um eine krankhafte Erscheinung.

Townsend sieht das anders. Er meint, dass zwischen den Geschlechtern kein prinzipieller Unterschied bestehe. Die Kindstötung sei zwar eine riskante und kostspielige Strategie, schließlich wehren sich die betroffenen Mütter vehement. Im Fall von Überbevölkerung sei sie dennoch ein probates Mittel zur Erhöhung des Fortpflanzungserfolges - gerade bei Schimpansinnen. Eine Argumentation, der sein Fachkollege Martin N. Muller in einem Kommentar bereitwillig zustimmt (Current Biology 17, R366).

Offenbar hat man sich bis jetzt zu sehr von der spektakulären männlichen Konkurrenz blenden lassen und den subtilen weiblichen Formen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. "Der Mythos des passiven Weibchens kann begraben werden", resümiert Muller mit einer nicht ganz so subtilen Metapher - und zwar "Seite an Seite mit deren Opfern".

Robert Czepel, science.ORF.at, 15.5.07
->   Jane Goodall Institute
->   University of St. Andrews
->   Infantizid - Wikipedia
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01.01.2010