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Anschläge: Forscher berechnen politische Konsequenzen  
  Will jemand die Welt gewaltsam ändern, versucht er es oft mit einem Anschlag auf einen politischen Führer. US-Forscher sind nun der Frage auf den Grund gegangen, ob diese Strategie tatsächlich Erfolge zeitigt. Ihr Ergebnis: Unter bestimmten Umständen ist die Chance gegeben, dass es nach einem Anschlag zu einem politischen Systemwandel kommt.  
Besonders gut sind die Aussichten auf eine politische Veränderung, wenn der Anschlag glückt und es sich bei dem Opfer um einen Diktator handelt. Attacken auf Demokraten hätten kaum langfristige Auswirkungen, weil die sie umgebenden Institutionen für Kontinuität sorgen.
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Die Studie "Hit or Miss? The Effect of Assassinations on Institutions and War" von Benjamin F. Jones (Northwestern University) und Benjamin Olken (Harvard University) wurde im Mai 2007 im Internet veröffentlicht.
->   Zur Studie (.pdf)
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Mordanschläge: Bestandteil politischer Geschichte
Bild: dpa
Von Cäsar ...
Anschläge auf Politiker gibt es seit jeher: Von Julius Cäsar bis John F. Kennedy, vom österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand bis hin zum israelischen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin - die Liste jener, denen Widersacher nach dem Leben trachteten, ist lang.

Meist wollen die Attentäter mit ihren Attacken "etwas verändern", ein politisches Zeichen setzen.

Aber geht diese Strategie auf? Bewirken Anschläge auf hohe Politiker tatsächlich etwas?
Zwei Aspekte: Institutionen und Krieg
Bild: Wikipedia
... über John F. Kennedy ...
Diese Fragen gingen der Politikwissenschaftler Benjamin Jones und der Ökonom Benjamin Olken nach und fokussierten sie auf zwei Aspekte:

Erstens analysierten sie die Bedeutung des Anschlags für die politischen Institutionen eines Landes. Kommen etwa auch Parlament (sofern es eines gibt), Verwaltung und Gerichtsbarkeit durcheinander, wenn der Staatschef einem Anschlag zum Opfer fällt?

Und zweitens fragten sie, ob eine gerade stattfindende kriegerische Auseinandersetzung von einer Attacke auf einen führenden Politiker beeinflusst wird.
298 Fälle analysiert
Bild: EPA
... und Jitzhak Rabin ...
Als Datenbasis sammelten die Forscher alle Mordanschläge auf führende Politiker (definiert als Staatschefs, Premierminister oder ähnlich hoch gestellte Persönlichkeiten) seit 1875, über die in US-Zeitungen geschrieben wurde.

Insgesamt kamen sie auf 298 Fälle, von denen 59 für das Opfer tödlich verliefen. Der "Erfolg" wurde auf verschiedenen Ebenen berechnet: zuerst, ob der Anschlag geglückt ist, und dann, ob das mit der Attacke verknüpfte Ziel einer politischen Veränderung erreicht wurde.
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"Erfolgreichste" Waffe: Pistole
Schon auf der ersten Analyseebene können Jones und Olken mit einigen interessanten Ergebnissen aufwarten: So zeigte sich, dass die bei Weitem "erfolgreichste" Waffe die Pistole sei. Sie wurde in 55 Prozent der untersuchten Fälle verwendet, in 30 Prozent fiel der Schuss tödlich aus. An zweiter Stelle (31 Prozent) rangieren Sprengkörper, die zu sieben Prozent ihren brutalen Zweck erfüllten. Zu 59 Prozent ist ein Einzeltäter am Werk, 41 Prozent der Anschläge werden von einer Gruppe verübt.
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Risiko einer Attacke gesunken
Generell zeigte sie statistische Analyse, dass die Anzahl von Anschlägen pro Jahr im 20. Jahrhundert (mit Ausnahme des Zweiten Weltkriegs) kontinuierlich angestiegen ist, schreiben Jones und Olken.

Die Chance, dass ein Staatschef Opfer einer tödlichen Attacke wird, sind jedoch gesunken. Während 1910 ein hoher Politiker noch ein Risiko von einem Prozent tragen musste, dass ein Anschlag auf ihn verübt wird, ist die Wahrscheinlichkeit heute nur mehr 0,3 Prozent.
Anschlag auf Autokraten: Chance auf Demokratie steigt
Bild: EPA
... bis hin zu Idi Amin.
Langfristig am stärksten erschüttert wird ein Staat, wenn ein Anschlag erfolgreich ausgeführt wird und das Opfer ein Autokrat war - die Chance auf eine Wandlung zur Demokratie steigt um 13 Prozent. Meist sind diese Herrschaftssysteme so stark auf den einzelnen zugeschnitten, dass sie mit dem plötzlichen Fehlen des Diktators ins Wanken geraten.

In Demokratien werden Mordanschläge durch ein stabiles Institutionengefüge abgefangen, sie zeigen kaum langfristige Wirkung.

Gefährlich wird es in autokratischen Systemen bei einem erfolglosen Anschlag: Er führt meist dazu, dass sich Unterdrückung noch stärker wird.
Krieg: Unterschiedliche Auswirkungen
Gibt es in einem Land kriegerische Auseinandersetzungen, kann sich ein Anschlag unterschiedlich auswirken: Ist der Konflikt erst am Beginn und köchelt mit niedriger Intensität dahin, wird er durch einen Anschlag meist verstärkt. Bekriegen sich zwei Parteien schon länger und mit großer Leidenschaft, kann eine Attacke auf einen politischen Führer zu einem schnelleren Ende beitragen.
Chancen, das Gefüge eines Staats zu erschüttern
Jones und Olken betonen, dass es ihnen nicht um moralische Aspekte geht, aber auch nicht um ein zynisches Kalkül. Sie sehen ihre Studie als einen Versuch, die Strategie von Attentätern auf ihre Erfolgsaussichten zu analysieren.

Und sie wollten zeigen, dass mehr oder weniger zufällige Aktionen einzelner imstande sind, das Gefüge eines Staates zu erschüttern - ein Faktor, der in der politischen Theorie meist vergessen wird.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 25.5.07
->   Benjamin Olken
->   Kellogg School of Management, Northwestern University
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01.01.2010