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Prägen Gene den Sprachtyp?  
  Chinesen und Vietnamesen drücken die Bedeutung von Wörtern mit Hilfe der Tonhöhe aus, Europäer tun das in der Regel nicht. Zwei britische Forscher vermuten nun, dass dieser Unterschied genetische Gründe hat.  
Zwei Genvarianten, die das Wachstum des Gehirns steuern, sollen über Jahrtausende hinweg auch die Entwicklung der so genannten Tonalität beeinflusst haben, vermuten Dan Dediu und Robert Ladd von der University of Edinburgh.
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"Linguistic tone is related to the population frequency of the adaptive haplogroups of two brain size genes, ASPM and Microcephalin" von Dan Dediu and D. Robert Ladd erscheint zwischen 28. Mai und 1. Juni 2007 auf de Website der "Proceedings of the National Academy of Sciences" (doi: 10.1073/pnas.0610848104).
->   Abstract (sobald online)
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Verschieden und doch ähnlich
Linguisten und Populationsgenetiker tun in mancher Hinsicht ähnliche Dinge: Sie untersuchen etwas, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Im einen Fall ist es die Sprache, im anderen die DNA. Die Art der Weitergabe ist natürlich höchst unterschiedlich, dennoch gibt es bemerkenswerte Übereinstimmungen zwischen diesen beiden Feldern.

Ein Beispiel: Der Stammbaum der so genannten nostratischen Sprachfamilie, zu der auch das Indoeuropäische gehört, hat eine ganz ähnliche Form wie der genetische Stammbaum der nordeurasischen Ethnien.

So etwas hatte bereits Charles Darwin vermutet, der in seinem Buch "Über die Entstehung der Arten" schrieb: "Besäßen wir einen vollständigen Stammbaum der Menschheit, so würde eine genealogische Anordnung der Rassen gleichzeitig am besten die Klassifikation der zahlreichen jetzt auf der Erde verbreiteten Sprache ermöglichen."
"Keine Gene für Chinesisch"
Er hatte Recht, genetische und linguistische Stammbäume sind einander tatsächlich sehr ähnlich - nur warum ist das so? Die Antwort ist relativ trivial. Die Ähnlichkeit ist historisch bedingt, wenn man so will: zufällig. In den Worten von Luigi Luca Cavalli-Sforza, dem Pionier auf diesem Forschungsgebiet: "Der genetische Austausch zweier Gruppen ist normalerweise umso intensiver, je dichter beieinander sie leben. Für Sprachen gilt das gleiche."

Wer in Europa aufwächst, hat nicht nur eine europäische Muttersprache, sondern erbt aller Wahrscheinlichkeit auch Gene aus dem europäischen Genpool. Mehr ist da nicht. Ähnliche Stammbäume rechtfertigen jedenfalls nicht die Annahme, dass die Gene den Spracherwerb direkter beeinflussen würden als etwa die Fähigkeit, ein Musikinstrument zu erlernen.

Das sehen auch Dan Dediu und Robert Ladd so. "Wir können mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass es keine 'Gene für Chinesisch' gibt", schreiben die beiden Forscher von der University of Edinburgh.
Der Ton macht die Bedeutung
Und dennoch haben sie sich auf die Suche nach einer direkten Verbindung zwischen Sprache und Genetik gemacht. Sie gingen von folgender Überlegung aus: Die Veränderung von Sprachen ist ein langsamer Prozess, zu dem jeder Mensch einen kleinen Beitrag leistet, indem er die Wörter und Regeln seine Muttersprache geringfügig anders verwendet als seine Vorgänger.

Im Prinzip sollte auch der Unterschied zwischen tonalen und nicht-tonalen Sprachen durch eine Abfolge solch kleiner Modifikationen entstanden sein. Tonale Sprachen, wie etwa Mandarin, zeichnen sich dadurch aus, dass bei ihnen die Tonhöhe fix mit der Bedeutung eines Wortes zusammenhängt.

Im Deutschen ist das nicht so: Ein schrill ausgesprochenes "Auto" könnte zwar allenfalls als Warnung statt als beiläufige Bemerkung aufgefasst werden, dennoch bleibt es immer noch ein Ding mit vier Rändern, das auf der Straße fährt.
Suche nach genetischen Faktoren
Warum eigentlich? Welche Einflüsse sorgen dafür, dass sich Sprachen in Richtung Tonalität oder Atonalität entwickeln? Man kann hier wieder den historischen Zufall bemühen und wird damit nicht grundsätzlich falsch liegen. Die Frage ist nur, ob das die ganze Wahrheit ist.

Dediu und Ladd vermuten, dass darüber hinaus auch handfeste genetische Faktoren am Werk waren: Bestimmte Erbfaktoren, die die Organisation des Gehirns beeinflussen, könnten vor langer Zeit einen gewisse Neigung (bzw. Abneigung) zur Tonalität erzeugt haben.

Im Einzelfall zwar mit geringer Auswirkung, aber über Generationen hinweg könnten sich etwaige Unterschiede zwischen Sprachgruppen durchaus summiert haben, so ihre Überlegung. Das setzt freilich voraus, dass es zwischen menschlichen Population überhaupt nennenswerte genetische Unterschiede gibt.
Tonalitätsbremse im Erbgut?
Als Kandidaten hatten die britischen Forscher die Erbfaktoren "ASPM" und "Microcephalin" im Visier. Für sie treffen zumindest die notwendigen Voraussetzungen zu: Beide spielen bei der Hirnentwicklung eine wichtige Rolle, von beiden wurden zudem kürzlich mutierte Varianten entdeckt, die rund 6.000 bzw. 37.000 Jahre alt sind.

Dediu und Ladd verglichen nun 49 Sprachgruppen - von den Basken bis zu den Xibe in China - sowohl auf genetischer wie auf linguistischer Ebene. Der Kunstgriff der Untersuchung bestand darin, die geografische und historische Nähe der einzelnen Gruppen so herauszurechnen, dass nur mehr das Verhältnis von Tonalität und Genetik übrig blieb. Wenn die statistische Methode diesem Anspruch tatsächlich gerecht wird, dann ist das Ergebnis recht eindeutig:

Populationen, in denen die mutierten Varianten von "ASPM" und "Microcephalin" selten sind, sprechen ausschließlich tonal. Solche, bei denen sie häufig sind, tun das hingegen nicht. Diese klare Zuordnung trifft für etwa die Hälfte der untersuchten Gruppen zu, der Rest verteilt sich auf einen Übergangsbereich, in dem sowohl tonale als auch atonale Sprachen vorkommen.

Dediu und Ladd jedenfalls sehen ihre Hypothese damit bestätigt - oder vorsichtiger ausgedrückt: zumindest nicht widerlegt. Vielleicht haben die beiden Gene in ferner Zeit tatsächlich den Fluss der Sprache ein wenig umgelenkt.

Robert Czepel, science.ORF.at, 29.5.07
->   Dan Dediu
->   Robert Ladd
->   Tonsprache - Wikipedia
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01.01.2010