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Biografie von James Joyce' Tochter auf Deutsch erschienen  
  Sie war das begabte Kind eines der kühnsten Autoren der literarischen Moderne, und sie endete in der Psychiatrie. Zu nah liegt das Klischee von Genie und Wahnsinn, als dass die Biografen von James Joyce einen genaueren Blick auf die Geschichte seiner Tochter versucht hätten.  
Dabei bezweifelte Joyce selbst, dass Lucia ein Fall für die Psychiatrie war. Eine Klärung hat die US-Literaturwissenschaftlerin Carol Loeb Shloss versucht. Die These ihrer jetzt auf Deutsch erschienen Studie: Lucia war eine viel versprechende Künstlerin.

Doch sie wurde geopfert - von Angehörigen und Bekannten. Sie befürchteten, die exzentrische junge Frau halte den Vater von der Arbeit an seinem epochalen Spätwerk "Finnegans Wake" ab.
Inspiration für den Vater?
Dabei war Lucia laut Shloss geradezu eine Inspiration für den Schriftsteller, der in "Finnegans Wake" die Wörter und Sprachen kreuzte, um den Gedankenstrudel unter der Schädeldecke eines Träumenden darzustellen.

Nicht nur, weil das 1907 in Triest geborene, in Zürich und Paris aufgewachsene Kind mühelos die Sprachen wechselte. Sondern auch wegen der kreativen Energie, mit der Lucia sich dem modernen Ausdruckstanz widmete. Schließlich nannte Joyce selbst seinen letzten Roman einmal einen "Sounddance" ("Klangtanz").
Unheilvolle Verkettung
Bild: Albrecht Knaus Verlag
Doch unerfüllter Ehrgeiz, zunehmende Spannungen mit ihrer Mutter Nora und enttäuschte Liebe - unter anderem zu Samuel Beckett - warfen Lucia aus der Bahn. 1932 kam sie zum ersten Mal in ein Sanatorium, nachdem sie in einem ihrer unkontrollierten Wutausbrüche einen Stuhl nach ihrer Mutter geschleudert hatte.

Nach Ansicht ihrer Biografin begann damit eine unheilvolle Verkettung familiärer Konflikte, verfehlter Therapien und gesellschaftlicher Vorurteile, die Lucia immer weiter von der Welt der Normalität entfernte. Dabei war sich selbst ein berühmter Psychiater wie Carl Gustav Jung unschlüssig, ob Lucia wirklich krank war.

Der Vater war ohnehin der Meinung, dass seiner Tochter die Heilanstalten nicht gut taten. Mit großer Hingabe versuchte er, sie zur Familie zurück zu holen.
Kaum persönliche Zeugnisse
Doch die Mutter, Lucias älterer Bruder Giorgio und manche Freunde der Joyces setzten durch, dass Lucia immer wieder eingewiesen wurde. 1982 starb sie in einer Heilanstalt.

Shloss musste dieses Leben vor allem indirekt aus Äußerungen Dritter rekonstruieren, denn persönliche Zeugnisse Lucias sind rar. Viele ihrer Briefe sind vernichtet worden - nach Darstellung der Autorin auch auf Betreiben von Joyces Enkel Stephen, der die Privatsphäre seiner Familie zu schützen trachtet.
Detailreiche Studie
Das Ergebnis ihrer 15-jährigen Arbeit ist eine materialreiche Studie, die erstmals verstreute Beobachtungen abwägt, in einen Zusammenhang bringt und vor einen zeitgeschichtlichen - auch psychiatriegeschichtlichen - Hintergrund stellt.

Zu den eindrucksvollsten Passagen zählt das Schlusskapitel, in dem Shloss die Spuren sucht, die Lucia in "Finnegans Wake" hinterlassen hat. In solider philologischer Textarbeit weist sie nach, wie Joyce das Schicksal seiner Tochter in Literatur umformte - und Lucia in der weiblichen Hauptfigur Anna Livia Plurabelle verewigte.

[science.ORF.at/ dpa, 4.6.07]
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01.01.2010