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Ursprung des Nervensystems bei Schwämmen?  
  Schwämme sind äußerst primitiv gebaute Tiere, sie besitzen weder Organe noch Muskel- oder Nervenzellen. US-Forscher haben nun herausgefunden, dass sie dennoch ein komplettes Set an Genen für Synapsen besitzen - den Kontaktstellen zwischen Nervenzellen.  
Für Kenneth S. Kosik von der University of California in Santa Barbara ist das ein Hinweis darauf, dass die evolutionären Ursprünge des Nervensystems bei den Schwämmen zu suchen sei. Einen Kandidaten für das gesuchte Proto-Neuron gibt es bereits.
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"A Post-Synaptic Scaffold at the Origin of the Animal Kingdom" von Onur Sakarya et al. ist im Open-Access-Journal "PLoS ONE" (2(6): e506. doi:10.1371/journal.pone.0000506) erschienen.
->   Studie
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Der Schwamm, das Mängelwesen
Schwämme sind quasi die Betaversion tierischer Organismen. Sie bestehen zwar aus vielen Zellen, aber deren Zusammenschluss ist vergleichweise lose; die Einzelzellen könnten auch überleben, wenn sie von Rest des Schwammes getrennt würden.

Schwämme haben keine Muskeln oder Nervenzellen, sie besitzen weder Atmungs- noch Ausscheidungsorgane, eigentlich besitzen sie überhaupt keine richtigen Organe.

Aus diesem Grund haben Zoologen für die Schwämme eine eigene systematische Kategorie mit dem Namen "Parazoa" erfunden, was man am besten als "Beinahe-Tiere" übersetzt. Der Rest des Tierreichs gehört zu den "Eumetazoa", den "echten" Vielzellern.
Gen-Vergleich im Tierreich
Gleichwohl liegt in der Einfachheit der Schwämme auch ein gewisser Reiz. Für evolutionsbiologische Studien sind die Schwämme ein beliebtes Vergleichsobjekt, da sie den am tiefsten gelegenen Ast des tierischen Stammbaumes repräsentieren.

Diesen Ansatz haben kürzlich Forscher um Kenneth S. Kosik verfolgt. Sie führten eine genetische Studie über die Evolution der Synapsen durch und untersuchten neben Mensch, Maus, Fliege, Fadenwurm und Anemone auch einen Vertreter aus der Gruppe der Schwämme:

Die Schwammspezies Amphimedon queenslandia hat - wie ihre Verwandten - keinerlei Nervenzellen. Deswegen wäre zu erwarten gewesen, dass sie auch keine Gene besitzt, die mit der Bildung von Synapsen zu tun haben.
Schwämme mit Synapsenproteinen
Diese Vermutung war falsch. "Wie sich herausstellt, haben Schwämme, obwohl sie kein Nervensystem besitzen, die meisten genetischen Bestandteile von Synapsen in ihrem Erbgut", sagt der Co-Autor der Studie, Todd Oakley.

"Und was noch überraschender ist: Wir haben Hinweise, dass die Schwammproteine auf ähnliche Weise interagieren wie die Proteine in Synapsen von Menschen und Mäusen. Offenbar sind die genetischen Grundlagen des Nervensystems genau so alt wie die ersten Tiere der Naturgeschichte - wenn nicht sogar älter."

Mit anderen Worten, die Synapsenproteine müssen älter als 600 Millionen Jahre alt sein. Denn in dieser Zeit entstanden die ersten Nesseltiere (zu denen Quallen und Polypen gehören), die bereits ein einfaches Nervensystem aufweisen.

Unter anderem fanden Kosik und Kollegen heraus, dass die Schwämme etwa die so genannten PDZ-Proteine besitzen, die sich in Synapsen wir Perlen zu einer Kette verbinden und als universelle Bindungsstelle für andere Proteine dienen. Die PDZ-Proteine sind das Rückgrat der synaptischen Proteinnetzwerke, ihre Modulbauweise ist so praktisch, dass sie von Genetikern als "Plug and Play"-System bezeichnet wurden (Science STKE 2003, re7)
Elektrische Signale ohne Nervenzellen
Nur: Was machen Tiere mit Synapsenproteinen, wenn sie keine Synapsen besitzen? Vermutlich verwenden sie die Proteine ebenfalls für die Zellkommunikation.

Im Jahr 1981 fand ein Team um den kanadischen Biologen G.O. Mackie heraus, dass Schwämme trotz ihrer urtümlichen Bauweise Einzelzellen durchaus koordinieren und Signale weiterleiten können. Wie, war zunächst nicht klar. In der im Journal "Science" (211, 1169) publizierten Arbeit schrieben Mackie und Kollegen: "Wie andere Forscher scheiterten auch unsere Versuche, elektrische Signale in Zellen nachzuweisen."

Der Nachweis dürfte in der Tat nicht einfach sein, denn es dauerte weitere 18 Jahre bis er gelang: 1999 berichtete Mackie, dass Schwämme elektrische Signale produzieren, die gewisse Ähnlichkeiten mit jenen von Nervenzellen aufweisen (Journal of Experimental Biology 202, 1139).
Ur-Neuronen gefunden?
Einen anderen Hinweis auf die Funktion der gefundenen Eiweißstoffe fanden Kosik und Kollegen bei den Larven der Art Amphimedon queenslandia: Sie besitzen so genannte Flaschenzellen, die deswegen auffielen, weil sie besonders viele Synapsenproteine herstellen.

Die US-Forscher gehen davon aus, dass sie den Tieren als primitive Sinnesorgane dienen und schließen folgende gewagte Hypothese an: Sie meinen, dass es sich bei den Flaschenzellen um eine Ur- bzw. Vorform der Neuronen handelt. Sollte das stimmen, dann sind die Flaschenzellen womöglich der Ausgangspunkt jener Entwicklung, die später zur Evolution von Gehirnen und intelligenten Lebewesen geführt hat.

Aber das ist zur Zeit reine Spekulation. Es wäre nämlich genau so möglich, dass die Flaschenzellen keine Proto-Neuronen, sondern eine Schrumpfstufe derselben darstellen. Dann wären sie einfach Ex-Neuronen, die im Lauf der Naturgeschichte unnötigen Ballast abgeworfen haben - in diesem Fall: die Synapsen.

[science.ORF.at, 6.6.07]
->   Kenneth Kosik - University of California
->   Schwämme - Wikipedia
->   Mehr zu Schwämmen im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010