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Freiluftmuseen erinnern an "altmodisches" Leben  
  Die industrielle Landwirtschaft hat dazu geführt, dass es immer weniger Tier- und Pflanzenarten gibt. Längst schon hat sich eine Bewegung etabliert, die dagegen kämpft und "altmodische" Lebewesen zu schützen trachtet. Das beeinflusst nicht nur die Konsumgewohnheiten, sondern hat auch zu neuen Orten der Erinnerung geführt. So sind Freiluftmuseen und ähnliche Einrichtungen entstanden, die Artenvielfalt demonstrieren. Die Kulturwissenschaftlerin Jennifer Jordan vom IFK in Wien analysiert sie in einem Gastbeitrag .  
Essbare Erinnerungen?
Von Jennifer Jordan

Nicht nur flauschige Eisbären und seltene Orchideen sind vom Aussterben bedroht, sondern auch die Pflanzen und Tiere, die einst in vielen Bauernhöfen und Gärten zu finden waren.

Die Industrialisierung bzw. Mechanisierung der Landwirtschaft, besonders in Europa und in den USA, haben dazu beigetragen, dass viele landwirtschaftliche Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind, und sehr viele schon für immer verschwunden sind.

Diese Ereignisse haben in den letzten Jahren eine Bewegung für die Erhaltung solcher Tiere und Pflanzen ins Leben gerufen. In den USA und in Europa werden gefährdete essbare/agrarwirtschaftsbezogene Tier- und Pflanzenarten jetzt geschützt, dargestellt, ausgestellt und immer öfter auch konsumiert.
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Vortrag am IFK in Wien
Jennifer Jordan hält am Montag, den 11. Juni 2007 um 18.00 c.t. am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "Folk culture and biodiversity in Central Europe's open-air folk museums".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
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Neue Orte mit "altmodischem" Essen
Der Trend zu "altmodischem" Obst und Gemüse sowie Tieren, die manchmal auf Englisch als "heirloom vegetables" oder "heritage meat" bezeichnet werden, schafft gleichzeitig Objekte und Orte, die Botschaften mit sich tragen.

Versuche, altertümlicher/"alter" Gene und deren Phänotypen in Form von Tieren und Pflanzen zu erhalten, tragen zu kollektiven Ideen über Vergangenheit und Zukunft bei.

Darüber hinaus entstehen konkrete Orte, beispielsweise Zoos, Bauernmärkte, Bauernhöfe und Freilichtmuseen, an denen seltene Gene und manchmal nostalgische Betrachtungen von vergangenen "foodways" (ein schwer zu übersetzendes Wort, das Essen, Kultur, Landwirtschaft, Technik, und sogar Rezepte und Essgewohnheiten einschließt) und ländliches Leben zusammenkommen.
Weben von Geschichte
Oft erfährt das Publikum beim Besuch solcher Orte überhaupt erst von der Existenz derartiger Tiere und Pflanzen.

Mit der Zucht seltener bzw. alter Haustierrassen, dem Anbau von altbewährtem Obst, Gemüse und Getreide und schließlich dem Verkauf von Produkten, die von den vor Ort gezüchteten Pflanzen und Tieren stammen, weben Freilichtmuseen (bzw. deren Kuratoren und Mitarbeiter) eine Geschichte von Pflanzen und Tieren und der Kultur, mit der sie stets verwurzelt waren und noch immer in Verbindung stehen.

Wie heikel und wichtig diese Beziehung sein kann, zeigen grenzüberschreitende Debatten und ernsthafte Auseinandersetzungen, die über das Essen ausgetragen werden - sei es über den Einsatz von Gentechnik, den Trend zur biologischen Landwirtschaft, die immer lauter werdenden Kritik an oft qualvollen Tiertransporten oder den globalen Kampf um gerechte Verteilung von Nahrungsmitteln.
Schutz von "alten" Genen
Im Zentrum des Geschehens stehen Menschen, die sich für die Erhaltung und Weiterentwicklung dieser Pflanzen und Tiere engagieren.

Solche Arbeit führt einerseits zu direkten Ergebnissen, wie geschmacksreichen Tomaten oder robusten Schweinen, schafft aber auch zwei weitere Resultate - nämlich bestimmte Orte, die mit den Genen und Genotypen verbunden sind (Bauerngärten, Schaugärten wie der vom Verein Arche Noah in Österreich oder Seedsavers Exchange in den USA, Zoobereiche wie der Tiroler Hof in Schönbrunn), sowie Geschichten, die mit diesen Orten und Objekten verbunden werden.

Die Erhaltung "alter" Gene wird von manchen als wirkungsvoller Schutz gegen zukünftige Plagen und Hungersnöte für wichtig erachtet. Auch sind Fragen von Macht und Geschmack, Reichtum und Armut eng mit Fragen von Essen im Allgemeinen sowie biologischer Vielfalt verbunden, und mit Obstgärten und Bauernhöfen kompliziert verflochten.
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Beispiel Stockholm: Alte schwedische Schweine
Man kann das Engagement um Arterhaltung und biologische Vielfalt u.a. in europäischen Freilichtmuseen und US-amerikanischen "living history museums" beobachten, wo "alte" (d.h. gefährdete, seltene, vor Jahrzehnten gezüchtete) Pflanzen und Tieren erhalten und oft eng mit Geschichten über die Vergangenheit verbunden werden.

In Skansen zum Beispiel, dem ersten Freilichtmuseum Europas, welchen 1891 in Stockholm eröffnet wurde, kann man heute nicht nur alte Bauernhäuser besichtigen, sondern auch "alte" schwedische Schweine, die besonders gut für die nordischen Wälder geeignet sind, allerdings nicht für die modernere Viehzucht.

Dazu kommen Kräutergärten, Gemüse- und Obstgärten, die mit "historischer" Bepflanzung einen Eindruck vermitteln sollen, wie das Leben "damals" war.
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Soziologie des Essens und Vergessens
Eine soziologische Analyse des kollektiven Gedächtnisses kann mit dem immer wichtiger werdenden Bereich der Soziologie des Essens verbunden werden, womit gleichzeitig eine Diskussion über Nostalgie und ländliche Idylle sowie Gentechnik und den Verlust von biologischer Vielfalt angerissen ist.

Eine Soziologie des Essens schließt auch das Vergnügen (Essen, Antizipation des Essens) und das Schmerz (Hunger, Angst vor Hunger) des Essens ein.

In den wohlhabenden Teilen der Welt sind Fragen von landwirtschaftlicher Biodiversität sehr wichtig, aber selten direkt mit dem Überleben verbunden.
Biodiversität erhalten
In anderen Teilen der Welt, wo die Landwirtschaft (noch) nicht völlig industrialisiert ist, entstehen manchmal bittere Kämpfe über Gentechnik, Patente, und Saatgutrechte.

Die Gärten der europäischen Freilichtmuseen und die bunten Kartoffelfelder in Teilen von Peru, wo Bauern und Aktivisten hoffen, die Erdäpfelvielfalt zu erhalten, scheinen zwar Welten entfernt, sind aber beide von der Hoffnung, Biodiversität zu erhalten, getragen und vermitteln ein starkes Bewusstsein von den komplexen Verbindungen zwischen Menschen und Essen, Zukunft und Vergangenheit.

[11.6.07]
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Über die Autorin
Jennifer Jordan ist Associate Professor für Soziologie und Urban Studies an der Universität Wisconsin-Milwaukee und derzeit Senior-Fellow am IFK in Wien. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit der dynamischen Beziehung zwischen Erinnerung und Materialität (zu Berlin nach 1989, Freiluftmuseen in Mitteleuropa oder zur Kultur, Politik und Soziologie von Nahrungsmitteln).
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->   Verein Arche Noah
->   Seedsavers Exchange
->   Skansen
 
 
 
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01.01.2010