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Elitenmigration muss nicht zu "Brain-Drain" führen  
  Wenn gut ausgebildete junge Menschen ihr Land verlassen, muss das nicht unbedingt einen "Brain-Drain" - einen Verlust an Wissen und Fähigkeiten - für ihre Heimat bedeuten. Wie die Migrationsforscherin Nina Wolfeil von der Uni Wien in einem Interview betont, kann sich die Auswanderung von hoch Qualifizierten positiv auf die Wirtschaft von Herkunfts- und Zielland auswirken.  
Wolfeil arbeitet am Initiativkolleg "Kulturen der Differenz" mit, das gemeinsam mit zwölf anderen an der Universität Wien eingerichtet wurde, um den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern.

In ihrer Doktorarbeit beschäftigt sie sich mit der Migration Hochqualifizierter aus den ostmitteleuropäischen Staaten.
science.ORF.at: In Ländern wie Österreich oder Deutschland denkt man bei Migration vor allem an zwei Dinge: die Einwanderung von niedrig qualifizierten Menschen, oft aus Osteuropa, die den hiesigen Arbeitskräften Konkurrenz machen, sowie die Auswanderung von höher qualifizierten Inländern in Länder wie die USA, Schlagwort "Brain-Drain". Wie wird das in den Ländern Osteuropas wahrgenommen?

Nina Wolfeil: In Ostmitteleuropa wurde im Vorfeld der EU-Osterweiterung auch der "Brain-Drain" thematisiert. Es gibt aber eine Studie aus Polen - das bevölkerungsreichste der neuen EU-Mitglieder und insofern ein gutes Beispiel - die gezeigt hat, dass man davon nicht generell sprechen kann. In Polen sind vom "Brain Drain" höchstens einige urbane Zentren betroffen und ein paar Sektoren wie z.B. das Gesundheitswesen, also relativ kleine Gruppen.

Seit Mitte der 90er Jahre stellt man allerdings fest, dass die Auswanderer höher qualifiziert sind als die Gesamtbevölkerung. Während die Migrationsströme nach Deutschland eher geringer Qualifizierte betreffen, gehen nach Großbritannien eher die höher Qualifizierten - also in jene Länder, die ihren Arbeitsmarkt bereits geöffnet haben und die Übergangsregelungen wie in Österreich oder Deutschland nicht wollten.
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Teil von neuem Doktoratsprogramm
Das Initiativkolleg "Kulturen der Differenz. Transformationen im zentraleuropäischen Raum" ist eines von zwölf strukturierten Doktoratsprogrammen, die die Universität Wien zur Nachwuchsförderung geschaffen hat. Unter Leitung des Kollegsprechers Heinz Fassmann erforschen zwölf junge Wissenschaftler der Germanistik, Politikwissenschaft, Geschichte, Geographie und Komparatistik transdisziplinär die Auswirkungen des Systemwechsels von 1989. Betreut werden sie von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Fachbereichen.
->   Initiativkolleg "Kulturen der Differenz" (Uni Wien)
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In Ihrem Projekt untersuchen Sie Polen und Polinnen, die seit Beginn der 90er Jahre in Deutschland zu studieren begannen. Warum gerade diese Gruppe?

Nach den Chinesen gehören die Polen mit den Bulgaren zur zweitgrößten Gruppe von Bildungsausländern in Deutschland. Außerdem hat es zwischen Deutschland und Polen historisch sehr ausgeprägte Migrationsbeziehungen gegeben und der transnationale Ansatz der Migrationsforschung passt hier besonders gut.
Worin besteht dieser Ansatz?

Er stammt aus den USA vom Anfang der 1990er Jahre und geht davon aus, dass heutzutage nicht mehr so einfach von Einwanderung und Auswanderung gesprochen werden kann. Lebensprojekte von Migranten erstrecken sich vielmehr über zwei Gesellschaften oder Lebenskontexte und verbinden diese miteinander.
Was bedeutet das für die konkreten Biographien?

Auch Polen, die nach ihrem Studium in Deutschland bleiben, stellen keinen "Brain-Drain" für ihr Land dar. Sie können die Kontakte, die sie etwa während eines Praktikums in Deutschland geknüpft haben, sinnvoll für die ökonomische Entwicklung in Polen verwenden, in dem sie z.B. die Marktöffnung der Firma in ihrer Heimat vorantreiben.

Bei meinen Studien möchte ich deshalb nicht in Zahlen messen, wie der Abfluss von Humankapital aussieht, sondern den Prozess dahinter untersuchen. Es geht mir um die Klärung der Frage, inwieweit das soziale und kulturelle Kapital der Migranten genutzt wird für z.B. sozioökonomische Entwicklungen in Polen.
Laut einer Studie haben die Hälfte aller Inder, die im amerikanischen Silicon Valley im IT-Bereich arbeiten, in ihrer indischen Heimat ein Unternehmen gegründet. Gibt es ähnliche Phänomene auch in Europa?

Das ist ein ganz neues Forschungsfeld in Europa. Ich kann deshalb noch keine Regionen nennen, die derart miteinander verknüpft sind. Aber das untersuchen Migrationsforscher bereits.
Zwei Länder, die sich gerade wieder noch mehr miteinander verknüpfen, sind Österreich und Deutschland. Viele Deutsche sind in den vergangenen Jahren als Medizin-Studenten hierher gekommen. Ist das eine neue Form der Migration oder kehren diese Studenten nach Studienende wieder nach Deutschland zurück und gefährden damit den hiesigen Ärztebedarf, wie das Wissenschaftsministerium in der Frage der "Mediziner-Quote " gegenüber der EU argumentiert?

Aus meiner Sicht sind das ganz klar Migranten. Ich bezweifle auch die Daten zum Rückkehrpotenzial, denn es kommt immer drauf an, wen man zu welchem Zeitpunkt befragt.

Parallelstudien aus den USA zeigen, dass ausländische Studierende, die zu Studienbeginn befragt werden, eher angeben, wieder in ihre Heimat zurückkehren zu wollen. Am Ende des Studiums sieht das ganz anders aus, da will ein großer Teil bleiben.

Das hängt von den Fächern und auch den Herkunftsländern ab. Bei den Ingenieurswissenschaften sind es bis zu 50 Prozent. Von der neuen Welle an Medizin-Studierenden in Österreich gibt es meines Wissens nach noch nicht genug Erfahrungswerte.
Womit hängt diese Entscheidungsänderung zusammen?

Bildungsmigration hängt sehr stark mit der Lebensphase zusammen. Oft entscheidet sich in dieser Phase die Partnersuche. Familien werden gegründet, und dann sieht das natürlich ganz anders aus als zu Beginn des Studiums.
Eine theoretische Frage: Sie benutzen den Begriff des "Humankapitals", das manche Länder gewinnen und andere verlieren, sind aber nicht der Meinung, dass sich Migration mit ihm exakt beschreiben lässt?

Migrationsforschung arbeitet sehr interdisziplinär, mit Hochqualifizierten beschäftigen sich vor allem die Wirtschaftswissenschaften und diese reduzieren Menschen schnell auf Humankapital, die Verkörperung von Fertigkeiten und Wissen. Im Rahmen dieses Kollegs können wir aber auch eine andere, eine kulturwissenschaftliche Perspektive einnehmen.

Ich glaube, dass genau wie das Humankapital auch das soziale Kapital von Migranten für die Entwicklung von Regionen wichtig ist und verwende deshalb die Kapitalformen von Pierre Bourdieu. Mit ihnen lässt sich auch zeigen, wie es Bildungsmigranten gelingt, in einem Sozialraum aufzusteigen, der sich über mehrere Länder erstreckt - das ist zumindest, was ich vorhabe.
Sie verwenden für Ihre Forschung eher den Begriff "Brain-Circulation" als "Brain-Drain".

"Brain-Drain" und "Brain-Gain" sind zugkräftige Schlagworte, die es seit den 1960er Jahren gibt und den Abfluss bzw. Gewinn von Humankapital durch Elitenmigration bedeuten. Das Konzept wurde in den 1970er Jahren v.a. für Entwicklungsländer thematisiert, deren Probleme sich durch den "Brain-Drain" noch verschärfen hätten sollen.

Seit den 1980er Jahren zeigte sich aber, dass der Großteil der Elitenmigration nicht Entwicklungsländer betrifft, sondern dass auch große Arbeitsströme zwischen Industriestaaten existieren - besonders durch interne Arbeitsmärkte multinationaler Konzerne, was auch der Begriff "Brain-Exchange" ausdrückt.

Für meine Untersuchung finde ich den Begriff "Brain-Circulation" am sinnvollsten, weil er bedeutet, dass sich hochqualifizierte Migranten in unterschiedlichen Ländern aufhalten und dabei ihre Fähigkeiten weiter entwickeln.
Gibt es einen Hauptverursacher dieser Entwicklung?

Zu einem Großteil werden die unternehmensinternen Arbeitsmärkte von multinationalen Konzernen dafür verantwortlich gemacht. Untersuchungen zur Aktion der Green Cards für IT-Arbeiter in Deutschland haben aber festgestellt, dass die neueste Welle hochqualifizierter Migration nicht mehr durch sie gesteuert wird, sondern oft durch die Migranten selbst. Sie waren es, die den Erstkontakt mit dem späteren Arbeitgeber aufgenommen haben.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 18.6.07
->   Nina Wolfeil, Uni Wien
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Initiativkollegs der Uni Wien
Die Universität Wien fördert zwölf Initiativkollegs, fünf sind im Studienjahr 06/07 gestartet, die weiteren sieben starten 07/08. Dazu kommen noch sieben Kollegs, die extern finanziert werden. Pro Kolleg werden nach einen Auswahlverfahren bis zu zwölf Dissertanten aus dem In- und Ausland als Kollegassistenten angestellt. Der Frauenanteil liegt laut Uni bei den bisher eingerichteten Kollegs bei 42 Prozent, der Anteil der international Studierenden bei 61 Prozent.
->   Die zwölf Initiativkollegs
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01.01.2010