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Der Philosoph als Dissident: Andre Glucksmann ist 70  
  Der Protest gegen die Ungerechtigkeit, Unmenschlichkeit und Willkür der Herrschenden ist für den französischen Philosophen und Essayisten Andre Glucksmann die zentrale Aufgabe des Intellektuellen. Am 19. Juni 2007 feiert der umstrittene Denker seinen 70. Geburtstag.  
Selbstzufriedenheit der Demokratien attackieren
Glucksmann versteht sich als Dissident, "der mittels provokativer Thesen philosophiert".

Sein Ziel besteht darin, die Selbstzufriedenheit der westlichen Demokratien zu attackieren, die dem täglichen planetarischen Morden, das aus ideologischen oder politischen Gründen geschieht, gleichgültig gegenübersteht.

Dissidenz ist kein Parteiprogramm, sondern entsteht aus der tiefen Erschütterung angesichts der konkreten Leiden der Menschen.
Für ein sokratisches Engagement
 
Bild: dpa

Auch der akademischen Philosophie wirft Glucksmann Ignoranz vor: Sie beschränke sich meist darauf, sich in den Elfenbeinturm ihrer gelehrten Betrachtungen zurückzuziehen.

Sein Vorbild ist Sokrates, der sich auf dem Marktplatz von Athen nicht scheute, direkt mit den Bürgern zu philosophieren.
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Geprägt von kommunistischen Eltern
Geboren wurde Andre Glucksmann am 19.Juni 1937 in Boulogne-Billancourt als Sohn einer österreichisch-jüdischen Familie. Die Eltern waren vor Hitlers Machtergreifung nach Palästina ausgewandert. Sie kehrten nach Deutschland zurück, um am antifaschistischen Widerstand mitzuwirken.1937 konnten sie nach Frankreich fliehen, wo Glucksmann aufwuchs. Seine Kindheit war vom Engagement seiner kommunistisch ausgerichteten Eltern geprägt. Mit drei Jahren verlor er den Vater; die Mutter rettete ihn und seine beiden Schwestern vor der Deportation in ein deutsches Konzentrationslager.
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Mit 13 in kommunistische Partei eingetreten
Diese Neigung zum Widerstand führte Glucksmann dazu, bereits im Alter von 13 Jahren in die Kommunistische Partei einzutreten, die er aus Protest gegen den sowjetischen Einmarsch in Ungarn bald wieder verließ. Er studierte Philosophie; daneben war er publizistisch tätig.

In den Studentenunruhen des Jahres 1968 in Paris war Glucksmann neben Daniel Cohn- Bendit einer der führenden Protagonisten. Die gescheiterte Revolte von 1968 führte zu einer vorübergehenden Radikalisierung: Glucksmann wurde Mitglied der militanten maoistischen Splittergruppe "Gauche proletarienne", die auch Jean-Paul Sartre unterstützte.

Später bezeichnete Glucksmann diese Phase der "kritiklosen Huldigung der Person Mao Zedongs" als "einen Punkt in meinem Erwachsenenleben, den ich wirklich bereue".
Abrechnung mit dem Marxismus
Bekannt wurde Glucksmann mit der Aufsehen erregenden Abrechnung mit dem Marxismus, die er in seinem Buch "Köchin und Menschenfresser. Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager" 1975 vorlegte.

Alexander Solschenyzins monumentales Dokument "Der Archipel GULAG", das ausführlich den kommunistischen Staatsterror beschreibt, war der Anlass für eine radikale Totalitarismuskritik.
Gegen die Arroganz der Meisterdenker
Bild: EPA
In seinem Werk "Les Maitres Penseurs" - "Die Meisterdenker" erweiterte Glucksmann seine Kritik. Er setzte sich mit den staatsphilosophischen Ideen der deutschen Philosophen wie Fichte, Hegel und Marx auseinander.

Die Meisterdenker hätten das sokratische Fragen hinter sich gelassen - so lautete der Vorwurf - und sich stattdessen als Meister einer alles erklärenden Theorie präsentiert.

Mit seiner radikalen Kritik am Marxismus legte Glucksmann den Grundstein für die Bewegung der "Neuen Philosophen", die sich durch die Berufung auf die persönliche Erfahrung und den Widerstand gegen jede totalitäre Ideologie auszeichnet. Zu dieser Gruppe zählten unter anderen Bernard-Henri Levy, Alain Finkielkraut und Maurice Clavel.
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Was "Kenne dich selbst" bedeutet
Zitat (Interviewausschnitt): "Sie haben die Philosophie durch eine Wissenschaft ersetzt. Wenn sie von Philosophie sprachen, haben sie sich als Stellvertreter Gottes verhalten. Sie haben die Distanz des 'Kenne Dich selbst' bei Sokrates aufgegeben, denn das 'Kenne Dich selbst' bedeutet vor allem, dass Du nicht Gott bist."
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Konkreter Einsatz für die Menschenrechte
Glucksmann engagierte sich für Menschen, die durch politische Repressionen in ihrer Existenz gefährdet waren. Beispiele dafür sind seine Hilfsaktion für die vietnamesischen Boat people, seine Unterstützung von osteuropäischen Dissidenten und seine Solidarität mit der Bevölkerung von Tschetschenien.

Fast im Alleingang wandte er sich gegen die Kriegsverbrechen in Tschetschenien, die der Schriftsteller Arkadi Babtschenko in seinem Buch "Die Farbe des Krieges" eindrucksvoll beschrieb.
Aktionismus stößt nicht überall auf Wohlwollen
Glucksmann versteht sich weiter als "unbequemer Denker". Trotz heftiger Einwände ehemaliger Mitstreiter der Studentenunruhen des Pariser Mai 1968 scheute er sich nicht, den Nuklearpazifismus der Friedensbewegung zu kritisieren, das NATO-Bombardement auf Serbien zu rechtfertigen und ein militantes Vorgehen gegen islamistische Fundamentalisten zu fordern.

Diese kompromisslose Haltung führte zu einer unterschiedlichen Bewertung seiner Aktivitäten. Während ehemalige osteuropäische Dissidenten wie Vaclav Havel oder Adam Michnik das Engagement Glucksmanns würdigten, bezichtigten ihn Vertreter der kommunistischen Parteien des Verrats am Marxismus oder warfen ihm - wie der französische Philosoph Gilles Deleuze in einem Beitrag für Le Monde - Ichbezogenheit und Eitelkeit vor.
"Ein entwurzeltes Leben leben"
In seiner Rolle als Philosoph der Dissidenz ist sich Glucksmann der Gefahr bewusst, allmählich die Pose einer selbstgerechten Kassandra einzunehmen.

Davor bewahrt ihn seine grundlegende Skepsis, die ihn seit der Kindheit begleitet. Seine Wahl, Dissident zu sein, bedeutet für ihn, "dass man in einem schwankenden Ganzen ein entwurzeltes Leben lebt".

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 19.6.07
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Literaturhinweise
Andre Glucksmanns Bücher "Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt" und seine Autobiografie "Wut eines Kindes. Zorn eines Lebens" sind im Verlag Nagel&Kimche erschienen.
Arkadi Babtschenkos Buch über Tschetschenien "Die Farbe des Krieges" wurde im Rowohlt Verlag publiziert.
->   Glucksmann bei Wikipedia
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Glucksmann am 21.6. in Wien
Andre Glucksmann spricht am 21. Juni 2007, 19 Uhr, in der Alten Aula (Wollzeile 27/Bäckerstraße 20, 1010 Wien) zum Thema "Die Wut eines Kindes".
->   Mehr über die Veranstaltung
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01.01.2010