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Das Gehirn zahlt gerne Steuern  
  Dass kaum jemand gerne Steuern zahlt, ist eine ökonomische Binsenweisheit. US-Forscher haben nun das Gegenteil bewiesen: Sie haben die Gehirnregionen untersucht, die beim Bezahlen von Sozialsteuern und bei freiwilligen Spenden aktiviert werden. Das auch für die Forscher überraschende Ergebnis: Das Gehirn "freut sich" dabei genauso wie beim Naschen von Süßigkeiten oder anderen Genüssen.  
Damit wurden die neuronalen Grundlagen des Altruismus gefunden, wie es der der Kognitionspsychologe Ulrich Mayr von der Universität Oregon gegenüber science.ORF.at ausdrückte.

Gemeinsam mit den beiden Wirtschaftswissenschaftlern William Harbaugh und Daniel Burghart hat er Gehirn-Scans von Probanden analysiert, die gerade Steuern zahlten oder spendeten.
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Die entsprechende Studie "Neural Responses to Taxation and Voluntary Giving Reveal Motives for Charitable Donations" ist in "Science" (Bd. 316, S. 1622, Ausgabe vom 15.6.07) erschienen.
->   Abstract
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Reiner Altruismus vs. "warm glow"
Was für Humanisten selbstverständlich ist, bringt Ökonomen im Kapitalismus noch immer gehörig ins Schwitzen: Warum gibt es öffentliche Güter, die allen zugute kommen, wenn doch jeder nur auf seinen Eigennutz bedacht ist?

Zwei Erklärungen sind es, die die Forscher in der aktuellen "Science"-Studie anbieten. Zum einen die Existenz von "reinem Altruismus": Menschen, die über ihn verfügen, freuen sich daran, das öffentliche Wohl durch die Bezahlung von Steuern zu fördern, selbst wenn sich viele andere als "Trittbrettfahrer" betätigen und nichts beitragen.

Zum anderen gebe es den Effekt des "warm glow" - mit diesem "warmen Glühen" ist das Wohlgefühl gemeint, das durch den Akt einer freiwilligen Spende besteht. Das Gefühl ist dabei wichtiger als die Vermehrung der öffentlichen Güter.
Steuern oder freiwillige Spenden?
Diese Unterscheidung - auf der einen Seite verpflichtende Steuern, auf der anderen Seite freiwillige Spendenleistung - spielen in der realen Politik eine wichtige Rolle:

Während in weiten Teilen Europas die Steuerquote relativ hoch ist, zahlen US-Amerikaner weit weniger Steuern - dafür ist der Anteil freiwilliger Spenden zur Bereitstellung öffentlicher Güter in Amerika viel höher als in der Alten Welt.

Wie die Forscher nun in ihrer Arbeit beweisen, schrumpft der Unterschied dieser beiden Typen im Belohnungszentrum des Gehirns auf ein Minimum: Es reagiert in beiden Fällen gleich.
Experiment: 100 Dollar für Sozialprojekt
Das haben Harbaugh, Burghart und Mayr mit der Hilfe von 19 Teilnehmerinnen ihres Experiments herausgefunden. Die Forscher schenkten ihnen zuerst einhundert Dollar und teilten ihnen dann mit, dass ein Teil davon als "Steuer" an ein Lebensmittelhilfeprojekt für sozial Schwache geht.

Über den Rest des Geldes konnten die durchwegs weiblichen Probanden frei entscheiden - und es entweder behalten oder zur Gänze für das Sozialprojekt spenden.

Sie wurden in einen Gehirn-Scanner (funktionelle Magnetresonanztomographie) gelegt, auf einem darin installierten Computerschirm konnten sie das Ende der verschiedenen Transaktionen verfolgen.
Belohnungszentrum reagiert bei Spende und Steuer
Laut den Forschern reagierten zwei entwicklungsgeschichtlich sehr alte Regionen des Gehirns - der Nucleus caudatus und der Nucleus accumbens - in beiden Fällen auf die Geldausgabe.

Dabei handelt es sich um Gehirnregionen im ventralen Striatum, die auch bei anderen Belohnungen und Genüssen aktiviert werden - etwa beim Stillen von Heißhunger oder beim Pflegen von Sozialkontakten.

Bei freiwilligen Spenden feuerten die Nervenzellen stärker als im ersten Teil des Experiments, als die "Sozialsteuer" eingenommen wurde.
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Vermutlich keine Unterschiede zwischen Geschlechtern
Dass die gleiche Untersuchung mit Männern zu anderen Resultaten geführt hätte, glaubt Mayr nicht. "Wir haben nur Frauen genommen, um eine möglichst homogene Gruppe zu haben", meinte er gegenüber science.ORF.at. "Kleine anatomische Unterschiede zwischen den Geschlechtern können es schwerer machen, verlässliche Effekte im Scanner zu erhalten. Da MRI-Studien so teuer sind, wäre es schwierig geworden, eine Gruppe zu testen, die groß genug ist, um Geschlechtsunterschiede explizit zu erfassen."
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Überraschende Freude über Steuerleistung
Ulrich Mayr hält vor allem die Tatsache für überraschend, dass das Belohnungszentrum der Probandinnen auch im ersten "Steuer-Teil" des Experimentes aktiviert war, bei dem es keine freie Wahl gab.

"Das spricht klar für einen echten Altruismus. Ich glaube nicht, dass das die meisten Ökonomen erwartet hätten", meint Mayr. "Die Gehirnaktivierungen lügen nicht und können daher Aufschluss über grundlegende Motive geben."

Menschen sind in unterschiedlichem Ausmaß "reine Altruisten", so Mayer. Und Steuern können sie mitunter richtig glücklich machen - zumindest, wenn es um eine gute Sache geht.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 15.6.07
->   Ulrich Mayr, Universität Oregon
->   William Harbaugh, Universität Oregon
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01.01.2010