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100 Jahre Steinhof im Spiegel der Krankenakten  
  Vor 100 Jahren wurde in Wien die psychiatrische Anstalt "Am Steinhof" eröffnet. Zum Jubiläum untersucht die Historikerin Sophie Ledebur die Krankenakten aus den ersten Jahrzehnten, um dem Selbstverständnis der Einrichtung auf die Spur zu kommen. Neue Krankheitsbilder wie die Psychopathie sind damals entstanden, die Akten lassen einen unmittelbaren Blick darauf zu, wie sie in einem Interview mit science.ORF.at betont.  
Ledebur arbeitet zurzeit an einer Dissertation zur Geschichte von Steinhof im Rahmen des Initiativkollegs "Naturwissenschaften im historischen Kontext" an der Universität Wien.
science.ORF.at: Der Arbeitstitel Ihrer Dissertation lautet "Psychiatrie als Wissenschaft oder Verwahrung am Rande der Stadt?" - warum haben Sie das als Gegensatz formuliert?

Sophie Ledebur: Mit dem Bau von Steinhof wurde die Versorgung der Langzeitpatienten von der Klinik getrennt. Bei der Vorläuferinstitution am Brünnlfeld, am Gelände des heutigen neuen AKH, war das noch zusammen, da wurden wissenschaftliche Forschung, Behandlung und Versorgung der Patienten noch gemeinsam betrieben.

Die Statuten vom Steinhof sahen hingegen keine klinische Forschung vor. Das Aufnahmeverfahren war auch so, dass der Großteil der Patienten über das AKH auf den Steinhof transferiert worden ist.
Warum wurde die Pflegeanstalt am Steinhof, am Stadtrand von Wien gebaut?

Man hat aufgrund des Anstiegs der Patientenzahlen viel Platz gebraucht und wollte eine moderne Anstalt im Pavillonstil bauen. Sie wurde während der Planungsphase noch einmal vergrößert, das Sanatorium später dazukonzipiert.

Platz hat auch die Beschäftigung der Patienten gebraucht. Sie betrieben zum Teil Landwirtschaft, es gab etwa eine Spargel- und Forellenzucht. Für die ab Mitte der 1920er Jahre intensivierte Arbeitstherapie haben sowohl ökonomische als auch therapeutische Gründe eine wichtige Rolle gespielt.
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Teil von neuem Doktoratsprogramm
Das Initiativkolleg "Naturwissenschaften im historischen Kontext" ist eines von zwölf strukturierten Doktoratsprogrammen, die die Universität Wien zur Nachwuchsförderung geschaffen hat. Unter Leitung des Kollegsprechers Mitchell Ash erforschen zwölf junge Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen Wissenschaftsgeschichte. Ein zentrales Merkmal des Kollegs ist die gemeinsame Betreuung aller Dissertationen von jeweils einem Historiker und einem Naturwissenschaftler.
->   Initiativkolleg "Naturwissenschaften im historischen Kontext" (Uni Wien)
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Bild: APA
Otto-Wagner-Kirche in Wien-Steinhof
Wie kam es zum Anstieg der Patientenzahlen und dem Bedürfnis nach dieser neuen großen Anstalt?

Eine Erklärung in der zeitgenössischen Debatte bezog sich auf die Auswirkungen von Modernisierung und Urbanisierung, durch die Menschen angeblich immer kränker würden. Etwa wegen veränderter familiärer Strukturen: In kleineren Familien in der Stadt sind psychiatrische Patienten schwieriger zu betreuen als in der Großfamilie am Land usw.

Das ist ein interessantes, aber nicht mein Thema. Mich interessiert vor allem der damalige Diskurs: Welche Krankheitsbilder wurden neu definiert, wie wurde diese Problematik gesehen, welche Patientengruppen wurden aufgenommen, welche rausgehalten, welche Lösungsstrategien wurden vorgeschlagen?

Daraus ergibt sich das Selbstverständnis der Anstaltspsychiatrie, das zeigt, wie wissenschaftliche und organisatorische Einflüsse ineinander gegriffen haben.
Dazu analysieren Sie die Krankenakten von Steinhof.

Ja, die Jahrgänge von 1918 bis 1947 sind archiviert und seit zwei Jahren im Wiener Stadt- und Landesarchiv für wissenschaftliche Arbeiten zugänglich. Wegen des großen Umfangs - im Archiv befinden sich 150 Laufmeter Krankheitsgeschichten - muss ich auf bestimmte Krankheiten fokussieren, etwa auf die Psychopathie.
Ist die Psychopathie ein gutes Beispiel für die neuen Krankheitsbilder, die um 1900 auftauchten?

Im deutschen Sprachraum wurde die Psychopathie 1891 von Julius August Koch beschrieben. Sie ist für die Wissenschaftsgeschichte interessant, weil bei ihr viele Faktoren das Krankheitsbild beeinflussen: soziale, moralische, juristische und medizinische.

Die Diagnose "Psychopathie" hat die Symptome stark moralisierend und abwertend charakterisiert. Ob Patienten als geistig krank oder gesund einzustufen sind, wurde von Psychiatern heftig diskutiert.
Gibt es eine typische Psychopathenkarriere, die man aus den historischen Krankenakten ersehen kann?

Nicht unbedingt. Was bei der Psychopathie aber schon auffällig war, sind zwei Dinge: zum einen kamen derartige Patienten immer wieder nach Steinhof, zum anderen gerieten sie auch immer wieder in Konflikt mit dem Strafgesetz.

Wenn man die zeitgenössischen Fachzeitschriften liest, merkt man eine große Angst vor den so bezeichneten Psychopathen - davor, dass sie straffällig und immer wieder rückfällig werden konnten.

Zugleich - und für dieses Paradox habe ich noch keine Erklärung - wurden sie aber im Vergleich zu anderen Patienten besonders schnell als "nicht anstaltsbedürftig" entlassen. Diese Definition findet man bei anderen Krankheitsbildern so gut wie nicht.
Sie lehnen sich in Ihrem Projekt stark an Michel Foucault an, der sinngemäß meint, dass Diskurse ihre Gegenstände erst erzeugen. Eine volkstümliche Version seiner These könnte lauten: Das Reden über den Beinbruch hat das Bein erst gebrochen. Gilt das auch für die Krankenakten von Steinhof?

Genau das soll eine detaillierte Untersuchung ihrer Sprache ergeben. Krankenakten enthalten eine Anamnese: Da spricht der Patient, da sprechen seine Angehörigen und auch der Arzt, der das Gespräch aufschreibt. Aufgrund der Sprache erkennt man eine doppelte Autorenschaft von Patient und Mediziner.

Manchmal sind die direkten Äußerungen des Patienten sogar unter Anführungszeichen gesetzt. Man kommt so zu einem direkten Blick auf die Patienten, etwa zum Grund der Einweisung, weil die Angehörigen nicht mehr mit ihm umgehen konnten.
Krankenakten sind also in gewissem Sinne wahrhaftiger als andere Dokumente?

Sie sind vor allem eine schwierig zu erschließende Quelle, die noch nicht lange in der Wissenschaftsgeschichte verwendet wird: weil sie handschriftlich sind, weil es so viele gibt und weil sie schwer zu analysieren sind. Ihre Analyse erlaubt aber einen anderen, einen unmittelbareren Blick auf das Auftauchen der neu beschriebenen Krankheitsbilder.

Wenn ich etwa offizielle Jahresberichte der Anstalt als Quelle nehme, ist das etwas ganz anderes: das sind von der Institution für Außenstehende geschriebene Dokumente. Eine Krankenakte hingegen war nicht als Quelle gedacht, sondern diente als Dokument für anstaltsinterne Zwecke.
Wie sehen Ihre nächsten Arbeitsschritte aus?

Zum einen soll eine quantitative Untersuchung der Krankenakten einen allgemeinen Überblick ermöglichen. Eine Vollerhebung aller Daten ist wegen der großen Anzahl nicht machbar, deswegen werde ich eine repräsentative Stichprobe erstellen.

Und zum anderen werde ich eine qualitative Analyse bestimmter Krankheitsbilder machen, die die Organisation der Anstalt verändert haben, neben Psychopathie auch Epilepsie und Alkoholismus.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 10.7.07
->   Sophie Ledebur, Universität Wien
->   Steinhof (AEIOU)
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Initiativkollegs der Uni Wien
Die Universität Wien fördert zwölf Initiativkollegs, fünf sind im Studienjahr 06/07 gestartet, die weiteren sieben starten 07/08. Dazu kommen noch sieben Kollegs, die extern finanziert werden. Pro Kolleg werden nach einen Auswahlverfahren bis zu zwölf Dissertanten aus dem In- und Ausland als Kollegassistenten angestellt. Der Frauenanteil liegt laut Uni bei den bisher eingerichteten Kollegs bei 42 Prozent, der Anteil der international Studierenden bei 61 Prozent.
->   Die zwölf Initiativkollegs
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->   "Eugenik in Österreich" (Czernin-Verlag), mit einem Beitrag von S. Ledebur
Mehr zu den Initiativkollegs der Uni Wien:
->   Elitenmigration muss nicht zu "Brain-Drain" führen (18.6.07)
 
 
 
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01.01.2010