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Medizin statt Heroin: Forscher für Umdenken in Afghanistan  
  Seit dem Sturz der Taliban 2001 wird von internationalen Truppen und afghanischen Behörden versucht, den Anbau von Mohn zu unterbinden. Die Felder, auf denen der Rohstoff für Opium und Heroin wächst, werden zerstört - mit dem Ergebnis, dass noch immer 92 Prozent des illegalen Opiums weltweit aus Afghanistan stammen. Ein internationaler Think-Tank fordert nun ein radikales Umdenken.  
Der Senlis Council, eine internationale Organisation mit Sitz in London, die Experten verschiedenster Disziplinen zu den Themen Entwicklungs-, Sicherheits- und Drogenpolitik vereint, schlägt vor, die Zerstörung der Felder zu beenden und stattdessen in den Gemeinden mit der Produktion von morphiumhältiger Medizin zu beginnen. In Indien und der Türkei hat dieses Modell bereits funktioniert.
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Zulauf zu Taliban schwächen
Der Senlis Council versteht sich als internationaler Politik-Thinktank. Er verfügt über Büros in Kabul, London, Paris, Brüssel und Ottawa. Sorgen bereitet dem Council vor allem der starke Zulauf, den die aufständischen Taliban in den letzten Jahren verzeichnen konnten. Den Bauern ihre Existenzgrundlage zu lassen, würde dieser Entwicklung gegensteuern.
->   "Poppy for Medicine in Afghanistan" - Überblick
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Brennende Mohnfelder
 
Grafik: Senlis Council

Als eine internationale Allianz unter Führung der USA das Regime der Taliban 2001 gestürzt hatte, war schnell klar: Der Mohnanbau musste bekämpft werden, schließlich stammte schon damals ein Großteil des Rohstoffs für illegal gehandelte Opiate aus diesem Land.

Die Bilder von brennenden Mohnfeldern gingen schon bald darauf um die Welt, hatten allerdings kaum nachhaltige Wirkung: Der am Dienstag veröffentlichte Drogenbericht der UNO für 2006 konstatiert, dass rund 92 Prozent des illegal gehandelten Opiums aus Afghanistan stammen und im vergangenen Jahr 49 Prozent mehr hergestellt wurden als 2005 (siehe Grafik).
Taliban als "Retter" der kleinen Bauern
Der Senlis Council sieht den steigenden Anbau in Zusammenhang mit der Sicherheitssituation: Die Vernichtungsstrategie würde es den Taliban erlauben, sich als Retter der kleinen Bauern zu profilieren und damit neue Unterstützer zu gewinnen. Deshalb sei es an der Zeit, über eine Alternative nachzudenken, so Emmanuel Reinert, Direktor des Council, im Online-Dienst von "Nature".
Mohn für Medizin verwenden
Der Vorschlag der Experten: Die Bauern sollten den Mohn verwenden, um morphinhältige Medikamente herzustellen, die wiederum am Weltmarkt verkauft werden sollen. Der Gewinn würde an die Bauern zurückfließen.

Produziert werden sollen die Medikamente in mobilen Labors, die zwar einiges kosten würden, im Vergleich zur Vernichtung der Felder aber noch immer die deutlich billigere Variante wären. Anbau, Ernte, Medikamentenproduktion und -verkauf würden unter strenger Kontrolle internationaler Organisationen stehen.
Erfolgsaussichten
So ungewöhnlich der Vorschlag klingt, so sicher zeigen sich die Mitarbeiter des Council hinsichtlich der Erfolgsaussichten. Einerseits gibt es bereits ein internationales Lizensierungsschema für legalen Mohnanbau, andererseits haben Indien und die Türkei vorgezeigt, dass dieses Modell funktionieren kann.
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Beispiele Türkei und Indien
In den 1970er Jahren gehörte die Türkei zu den weltweit größten Herstellern illegalen Opiums. Mit Unterstützung der USA und einer Informationskampagne, die den Bauern den eigenen Nutzen des legalen Anbaus klar machte, wurde die Opiumsproduktion innerhalb von vier Jahren unter Kontrolle gebracht. Ähnliches gibt es aus Indien zu berichten: 1947 wurde der Mohnanbau legalisiert zu zwei Zwecken: Export des Rohstoffs und Herstellung von Medikamenten in Indien selbst. Aktuell erzielen indische Bauern mit dem Mohnanbau einen jährlichen Gewinn von rund 40 Millionen US-Dollar.
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Mangel an morphinhältigen Medikamenten
 
Bild: Sensil Council

Eine ähnliche Entwicklung lasse sich auch für Afghanistan erwarten, schreibt der Sensil Council in seinem Bericht. Neben der Stabilisierung des Landes erwarten die Experten einen weiteren positiven Effekt: Morphinhältige Medikamente stehen derzeit in erster Linie Patienten in den reichen Industrieländern zur Verfügung.

Patienten in Lateinamerika etwa bekommen nur in Ausnahmefällen morphinhältige Schmerzmittel verschrieben, obwohl es auch dort immer mehr Krebsfälle und HIV-Infektionen gibt (siehe Grafik oben). Schätzungen zufolge bekommen nur fünf bis zehn Prozent der Kranken, die starke Schmerzmittel benötigen würden, diese auch tatsächlich.
Billigere Medikamente aus Afghanistan
Ein Grund für die schlechte Versorgung ist der hohe Preis der Medikamente, und genau hier könnte der legale Mohnanbau in Afghanistan positiv wirken: Modelle des Senlis Council ergaben, dass mohnhältige Medikamente aus Afghanistan um 55 Prozent billiger wären als die derzeit erhältlichen.

Die nächsten Schritte sind für den Council klar: Seine Experten haben bereits drei Gebiete definiert, in denen schon im Oktober 2007, zu Beginn der nächsten Anbauzeit, mit Pilotprojekten begonnen werden könnte - sofern sie bis dahin die Unterstützung der lokalen und internationalen Behörden gewinnen können.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 27.6.07
->   Mehr über Afghanistan (Wikipedia.de)
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->   Wahlunterstützung für afghanische Frauen (6.4.04)
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->   Afghanistan: Wiederaufbau der Buddha-Statuen (22.10.03)
 
 
 
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01.01.2010