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Forscher: "Wilde Natur" gibt es nicht mehr  
  Das Bild von verwilderter Natur sollten wir aus unseren Köpfen streichen, zumindest wenn es nach US-Forschern geht. Der menschliche Einfluss sei nahezu überall zu bemerken, auch die Naturschutzgebiete bilden keine Ausnahme. Die romantische Verklärung unberührter Natur sollte daher aus ökologischen Überlegungen verschwinden. Stattdessen sollten Forscher lieber die Austauschbeziehungen veränderter Ökosysteme analysieren.  
Wildheit ist im Verständnis von Peter Kareiva (Nature Conservancy) und Kollegen nur ein Name eines Regelwerks zum Umgang mit Natur, aber kein System ohne menschlichen Einfluss mehr. Natur verstehen sie als ein Bündel von Ökosystemen, von denen manche stärker, andere schwächer vom Menschen unter seinen besonderen Logik von Risikominimierung und Produktivitätssteigerung gefördert werden, formulieren die Forscher nicht gerade unumstrittene Thesen.
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Die Studie "Domesticated Nature: Shaping Landscapes and Ecosystems for Human Welfare" von Peter Kareiva und Kollegen ist am 29. Juni 2007 in "Science" erschienen (Band 316, S. 1866-1879, DOI:10.1126/science.1140170).
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Massiver Einfluss des Menschen
 
Bild: Science

"Die natürlichste Tätigkeit des Menschen ist die Domestizierung der Natur", schreiben Peter Kareiva und seine Kollegen, und: "Es gibt keine vom Menschen unbeeinträchtigte Natur". Dass ihre Thesen Widerspruch auslösen können, scheint ihnen bewusst zu sein, schließlich führen Sie in ihrem Paper zahlreiche Fakten an, die den massiven Einfluss des Menschen auf den Planeten belegen sollen.

Bild oben: Je röter das Gebiet, desto größer der Einfluss des Menschen, berechnet durch Bevölkerungsdichte, Verbauung der Oberfläche, Stromversorgung und Verkehrsinfrastruktur.
->   Link: Weitere Weltkarten (Columbia University)
Keine unberührte Natur
"Domestizierung in ihrer einfachsten Bedeutung meint ausgebeutete und kontrollierte Natur": Zirka die Hälfte der Weltoberfläche wurde zu abgegrastem Land oder zu Anbaugebieten. Mehr als 50 Prozent der Wälder weltweit wurden zur Landgewinnung zerstört.

Die Bezeichnung "Unberührte Regenwälder" führe in die Irre, denn es gebe sie schlicht nicht. Zumindest in prähistorischen Zeiten sind massive Aktivitäten von Menschen in den Wäldern des Amazonas und Kongo belegt.
Antrieb: Sicherheit und Versorgung
Als Antrieb für die Domestizierung sehen die Forscher unterschiedliche Faktoren: Zum einen sollte die "gefährliche" Natur sicherer werden: Mittlerweile wurden alle großen Fleischfresser unter den Tiere beinahe ausgerottet. Zum zweiten sollte die Versorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln gesichert werden: Die Vermutung, dass die Nahrungsmittelproduktion nicht mit dem Bevölkerungswachstum mithalten wird können, hat sich nicht bewahrheitet. 40 Prozent der Anbauflächen für Getreide werden von Weizen, Mais, Reis und Gerste belegt, die unkompliziert verarbeitet und aufbewahrt werden können. Dünger und Gentechnik führen zu hohen Erträgen.

Auch bei der Tierzucht hat der Mensch seine Spuren unverkennbar hinterlassen: Die Massentierhaltung und Fischereiindustrie haben Ökosysteme irreversibel verändert - die Forscher weisen auf die Quallenschwämme vor den Küsten Namibias hin, die durch das Leerfischen des Meeres Platz zur Vermehrung gefunden hätten.
Handel braucht Verkehrswege
 
Bild: Science

Industrialisierte Produktion bringt einen Überschuss hervor, der gehandelt wird. Und auch dieser Handel hat das Gesicht der Erde verändert. Häfen, Straßen, Flughäfen, Bahnhöfe etc. bilden die Ankerpunkte der Handelsinfrastruktur (siehe Bild oben: Straßen- und Schiffverbindungen).

Der Verkehr half und hilft immer wieder Tieren, Pflanzen und Viren, sich schnell zu verbreiten und in andere Ökosysteme einzudringen.
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Nationalparks
Besonders irreführend sind in dieser Diskussion die Nationalparks, meinen Kareiva und Kollegen. Rund 14 Prozent der Erdoberfläche wurden zu "geschützten Naturreservaten" erklärt, darunter viele Gebiete, die unter massivem menschlichen Einfluss stehen. Im weltweit am meisten besuchten Nationalpark, dem Fuji-Hakone-Izu-Park in Japan, gibt es Hotels, Golfplätze und Straßenbahnen.
->   Mehr über den Fuji-Hakone-Izu-Park
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Austauschbeziehungen statt "Impact" analysieren
Die Domestizierung ist also ein Faktum, stellen die Forscher fest - nicht ohne auch die negativen Auswirkungen zu sehen. In der Wissenschaft müsse es aber darum gehen, die Austauschbeziehungen zwischen modifizierten Ökosystemen zu analysieren.

Die schlichte Analyse des "Impact" des Menschen auf die Natur greife zu kurz und die Romantisierung von Wildheit sei schlichte Flucht vor der Realität.

Die Wissenschaftler rufen dazu auf, eine Theorie zu entwickeln, mit der die Auswirkungen von modifizierten Ökosystemen erfasst werden können. Es geht schlicht darum, "sich zu überlegen, in welcher Art von Natur die Menschheit zukünftig leben will", formuliert Peter Kareiva provokant. Das Nachtrauern der Vergangenheit sei nur verschwendete Energie.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 2.7.07
->   Interview mit Peter Kareiva auf "The Nature Conservancy"
->   Mehr zum Stichwort Biodiversität im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010