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Bourdieus Erbe: Was die Netzwerkanalyse damit tut  
  Damit gesellschaftliche Hierarchien entstehen, ist es nötig, dass Menschen sich unterscheiden. Diese Unterschiede können sich aus dem Vermögensstand und der Familiengeschichte herleiten, aber auch aus der Ausbildung, den Hobbys und dem Musikgeschmack. "Distinktion" hat der Soziologie Pierre Bourdieu dieses Prinzip genannt. "Bourdieus Erben" versuchen, seine Konzepte weiterzuentwickeln.  
Die Soziale Netzwerkanalyse (SNA) reklamiert für sich zahlreiche Anschlussstellen an die Arbeit Bourdieus, aber auch Adaptionen, die für die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft nötig wären. In einem Buchbeitrag skizziert Christian Gulas, Mitarbeiter des auf Netzwerkanalyse spezialisierten Unternehmen FAS.research, wie die SNA mit Bourdieus Erbe arbeitet bzw. es erweitert.
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Das Buch "Bourdieus Erben. Gesellschaftliche Elitebildung in Deutschland und Österreich", herausgegeben von den Ö1 Wissenschaftsredakteurinnen Ulrike Schmitzer und Elisabeth Nöstlinger, ist im Mandelbaum-Verlag erschienen.
->   Mandelbaum-Verlag
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"Aufwertung, vor allem Operationalisierung"
Bourdieus Konzept des "Sozialen Kapitals" erfahre durch die Netzwerkanalyse eine "theoretische Aufwertung, vor allem aber eine Operationalisierung", schreibt Sozialwissenschaftler Christian Gulas in seinem Beitrag über "Netzwerke im Feld der Macht". Bourdieu versteht unter dem "Sozialen Kapital" eine Reihe an Merkmalen und Eigenschaften, die der Umgebung dazu dienen, einer Person einen bestimmten Platz in der Gesellschaft zuzuweisen.
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Einfluss auf Anerkennung
"Kapital" zu besitzen bedeutet nicht nur, über eine bestimmte Menge von materiellen Gütern (Auto, Haus, etc.) und symbolischen Gütern (Bildung, Musikgeschmack, Hobbys, etc.) zu verfügen, sondern auch Einfluss darauf nehmen zu können, welches Merkmal gerade gesellschaftlich anerkannt wird und wie der Besitz verteilt wird. Menschen unterscheiden sich durch diese Merkmale, und durch die Unterscheidung ("Distinktion") wird wiederum eine Hierarchie erzeugt.
->   Musikgeschmack eignet sich am besten zur Distinktion (13.7.07)
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Priorität für soziale Beziehungen
Die Distinktionsbeziehungen machen bei Bourdieu den Großteil der Beziehungen zwischen Menschen aus - und das greift für die Netzwerkanalyse zu kurz: "Bei diesem Modell 'fehlt', dass Akteure und Gruppen auch soziale Beziehungen zueinander unterhalten. Sie kommunizieren und interagieren, üben Macht aufeinander aus, produzieren materielle sowie immaterielle (symbolische Güter) und tauschen diese aus", schreibt Gulas.

Aus Sicht eines Netzwerkanalytikers bedeutet das, "diesen sozialen Beziehungen und nicht nur den Distinktionsrelationen eine Priorität einzuräumen."
Beziehungen als Kapital
Bourdieu konzentriere sich bei der Untersuchung des "Sozialkapitals" auch zu sehr auf den Gruppenaspekt: Dass die Zugehörigkeit zu einer Gruppe einer Person "Gewicht" verleihen könne, stimme zwar. "Aus Sicht der Sozialen Netzwerkanalyse ist die Gruppenaffiliation nur eine von vielen möglichen Beziehungen (...). Jeder Akteur ist in eine Vielzahl von gesellschaftlichen Relationen eingebettet - von den Beziehungen zur Kernfamilie und zur engeren Verwandtschaft über FreundInnen, ArbeitskollegInnen bis zu entfernten Bekannten", schreibt der Netzwerkanalytiker.

"Beziehungen", so weiter, "stellen ein Kapital im Bourdieu'schen Sinn dar - sie sind eine 'Kraft', von deren Besitz es abhängt, wie weit ein Akteur in diesem gesellschaftlichen Tausch teilhaben kann."
Stabil, divers und effizient
Soziale Netzwerke seien "eine Art, diese komplexen Systeme zu operationalisieren". Durch mathematische Modelle könnten Beziehungen gewichtet und damit zentrale Akteure in Netzwerken ausfindig gemacht werden.

Besonders gut funktionierende Netzwerke sind divers, stabil und effizient: Je unterschiedlicher die Ressourcen, die man über ein Netzwerk anzapfen kann, je stabiler das Gebilde ist und je effizienter, d.h. ohne viele Zwischenschritte, die Kontaktaufnahme funktioniert, desto größer sei auch das Sozialkapital, das ein Menschen akkumulieren bzw. verwerten kann.
Kapital transformieren
Reichtum alleine oder große Bildung mache noch keinen "Mann von Welt", so Gulas in seinem Beitrag zum nicht einfachen, aber lesenwerten Buch "Bourdieus Erben". Vielmehr müsse ökonomisches und kulturelles Kapital in soziale Kontakte eingebracht werden, durch Tausch umgewandelt und transformiert angeeignet werden. Auf je mehr verschiedene Formen der Besitz aufgeteilt ist, desto größer sind die Profite.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 27.8.07
->   Hyperbourdieu: Bibliografie und Mediendokumentation
->   Begriff des "Sozialen Kapitals" (Wikipedia)
->   FAS.research
Mehr über Netzwerkanalyse in science.ORF.at:
->   Netzwerk: Ökonomische Ungleichheiten visualisiert (26.7.07)
->   Exzellente Netzwerke: Europas Weg zu Innovation? (8.11.05)
->   Netzwerkanalyse: Macht ist robust und anpassungsfähig (31.8.04)
Mehr über Pierre Bourdieu in science.ORF.at:
->   Französischer Soziologe Pierre Bourdieu gestorben (25.1.02)
->   Bourdieu: Soziologie als Überlebensprogramm (24.1.02)
->   Bildung: Wie Gleichheit Ungleichheit fördert (20.11.01)
 
 
 
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01.01.2010