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Weiblichkeit liegt bei Mäusen in der Nase  
  Was männliches und weibliches Verhalten ist, bleibt auch im Tierreich oft umstritten. In erster Linie gingen Wissenschaftler bisher davon aus, dass spezifische neuronale Schaltungen im Gehirn für das Prädikat "männlich" oder "weiblich" verantwortlich sind. Diese wiederum beruhen auf hormonellen Einflüssen im Mutterleib.  
Die Neurobiologin Tali Kimchi und ihr Team von der Harvard University liefern nun eine andere Erklärung.

Laut ihrer Mäusestudie liegt der Schlüssel zum weiblichen Verhalten in der Nase - genauer gesagt im Vomeronasalorgan, das für das Erkennen von Sexuallockstoffen bekannt ist.
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Die Studie "A functional circuit underlying male sexual behaviour in the female mouse brain" ist am 5.8.07 online in "Nature" erschienen (doi: 10.1038/nature06089).
->   Abstract der Studie
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Genmutation mit überraschenden Folgen
Weibliche Mäuse, deren Vomeronasalorgan infolge einer genetischen Mutation nicht funktionierte, zeigten im Laborversuch typisch männliches Verhalten. Sie jagten ihre Mitbewohner und hoben die Hinterteile der Männchen mit ihren Schnauzen an.

Sie erzeugten auch die komplexe Folge von Ultraschalltönen, die zum Werberitual der Mäusemännchen gehört, und imitierten sogar männliches Sexualverhalten, besprangen die bedauernswerten "Mäuseriche" und machten typische Beckenbewegungen.

"Diese Ergebnisse sind verblüffend", sagt Catherine Dulac, Mitautorin der Studie, laut einer Aussendung der Universität Harvard. "Niemand konnte sich vorstellen, dass eine derart einfache Mutation Weibchen dazu bringen könnte, sich so durch und durch männlich zu benehmen."
->   Video 1 der "männlichen Weibchen" (wmv-Datei)
->   Video 2 (die hellen Mäuse sind die Weibchen)
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Vomeronasalorgan
An der Nasenscheidewand fast aller Wirbeltiere ist dieses kleine Sinnesorgan, auch als Jacobson'sches Organ bekannt, zu finden, das für das Erkennen von Pheromonen (Sexuallockstoffen) verantwortlich ist. Ausnahmen bilden nur Vögel, Krokodile und höhere Primaten.
->   Vomeronasalorgan - Wikipedia
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Mäuseweibchen als Machos
 
Bild: Tali Kimchi

Zwei der weiblichen Mutanten

Die Tiere schienen nicht zu wissen, ob sie "Männlein oder Weiblein" waren. Das Vomeronasalorgan ist nämlich für die Identifizierung der Artgenossen mittels Pheromonen, den Sexuallockstoffen, entscheidend.

Die mutierten Mäuse zeigten allerdings nicht ausschließlich männliches, sondern auch weibliches Sexualverhalten. Sie paarten sich und wurden schließlich sogar trächtig.

Als die Jungen geboren waren, beobachteten die Forscher allerdings einen auffälligen Mangel an Mutterliebe.
Fehlender Mutterinstinkt
Wild lebende Mäusemütter verbringen etwa vier Fünftel ihrer Zeit im Nest und kümmern sich um ihren Nachwuchs. Die Weibchen mit dem Gendefekt hatten aber schon nach zwei Tagen Mutterschaft genug: Sie verließen das Nest und ihre Jungen.

Sie dachten auch nicht daran, ihren Nachwuchs gegen männliche Eindringlinge zu verteidigen, wie es für stillende Mäuse normal ist. Stattdessen zeigten sie sich gegenüber den Avancen ihrer Artgenossen äußerst aufgeschlossen.
Neuronale Schaltungen sind geschlechtsneutral
"Es gibt zwei mögliche Interpretationen", sagt Dulac. "Entweder das Vomeronasalorgan ist nötig, um während der Entwicklung eine spezifisch weibliche neuronale Schaltung auszubilden oder das Gehirn ausgewachsener Mäuseweibchen benötigt vomeronasale Aktivität, um männliches Verhalten zu unterdrücken."

Um herauszufinden, welche Auslegung richtig ist, entfernten die Forscher die Jacobson'schen Organe normaler erwachsener Weibchen. Sie begannen ebenfalls, sich wie Männchen zu benehmen, obwohl ihr Testosteron- und Östrogenspiegel völlig normal war, genau wie bei ihren Artgenossinnen mit dem Gendefekt.
Hormone haben weniger Einfluss als erwartet
Ursprünglich hatte man gedacht, dass neuronale Schaltungen, beeinflusst von diesen Hormonen, geschlechtsspezifisches Verhalten steuern. Seit Jahren sucht die Wissenschaft nach diesen unterschiedlichen Schaltungen - vergeblich.

Ihre Arbeit zeige, sagt Dulac, "dass sich neuronale Schaltungen, die spezifisch männlichem Verhalten zugrunde liegen, im weiblichen Mäusehirn entwickeln und bestehen bleiben, aber durch die normale Aktivität des Vomeronasalorgans unterdrückt werden."

Mit anderen Worten: Die Gehirnentwicklung ist bei Männchen wie Weibchen gleich, bei geschlechtsreifen Tieren aber wird durch die Reaktion auf die Pheromone das Gehirn auf ein Geschlecht "geschaltet".
Neues Modell für geschlechtsspezifisches Verhalten
Die Autoren der Studie betonen, dass diese Ergebnisse nicht auf Menschen anwendbar seien, weil diese kein Vomeronasalorgan besitzen. Andere Forscher sind sich da nicht so sicher.

In der menschlichen Nase wurde ein Schleimhautschlauch gefunden, der mitentscheidet, ob wir "einander riechen" können. Allerdings unterscheidet sich sein Aufbau vom Jacobson'schen Organ anderer Säugetiere.

Und dass die Sexualität der Menschen noch ein wenig komplexer ist als jene der Mäuse, wissen alle, die sie schon einmal ausprobiert haben.

[science.ORF.at, 6.8.07]
->   Catherine Dulac, Harvard Universität
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01.01.2010