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Wie das Individuum zur Welt gekommen ist  
  Einen ausgeprägten Charakter zu haben und anders sein zu wollen als die anderen, gilt heute als normal. Dabei handelt es sich um eine Besonderheit der westlichen Gesellschaft mit gar nicht allzu langer Tradition. Erst ab der Renaissance gewann das Individuum an Bedeutung. In unserer Zeit wurde es zum Idealbild erhoben, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Bettina Gruber in einem Gastbeitrag. Sie leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2007 ein Seminar mit dem Titel "Die Geburt des modernen Individuums in der Literatur".  
Ein schwieriger Akt: Die Geburt des modernen Individuums
Von Bettina Gruber

Von allen Seiten und aus allen Medien können wir erfahren, dass wir in einem individualistischen Zeitalter leben. "Persönlichkeit" im Sinne eines ausgeprägt eigenen Charakters zu haben, gilt als wünschenswert, als interessant und in einigen Branchen sogar als Voraussetzung zum Erfolg.

Von Schauspielern und Politikern z.B. erwarten Presse und Publikum die Demonstration von Eigenheiten, die bei Bedarf für sie auch ad hoc erfunden werden können. Die Vorstellung der unverwechselbaren Individualität, zur Not mediengerecht fingiert, fasziniert. Die Einzigartigkeit jedes Menschen zählt zum Kernbestand europäischer Überzeugungen.
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Bettina Gruber leitet gemeinsam mit Jürgen Schlaeger beim Europäischen Forum Alpbach 2007 das Seminar "The Birth of the Modern Self in Literature" (17.-23.8.2007). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Details zum Seminar
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Individualität war nicht immer gefragt
Das war nicht immer und nicht überall so und bleibt auch heute über weite Strecken auf die westliche Welt beschränkt. Sowohl die alteuropäische als auch traditionelle außereuropäische Kulturen gehen mit der Existenz des Einzelmenschen in vollkommen anderer Weise um.

Dieser rückt in eine bestimmte Position in seiner Gemeinschaft ein, indem er eine vorgegebene Rolle, meist die eines Vorfahren, übernimmt. Innovative Entscheidungen und ein erkennbar eigener Stil bilden kein Kulturideal, sondern sind stets in Gefahr, als negative Abweichung gebrandmarkt zu werden.
Ganzheit und Differenz
Welche Vorstellungen verbinden sich aber mit dem Begriff "Individualität"? Die etymologisch mitgegebene Bedeutung der Unteilbarkeit impliziert, dass das Individuum ein Ganzes bildet. Diesem ursprünglich rein sachlichen Aspekt (ein Ding, das man nicht teilen kann), wird später eine hohe symbolische Bedeutung zuwachsen.

Ganzheit bedeutet nun nicht physische Unteilbarkeit, sondern verweist auf eine Integration aller Persönlichkeitsbereiche, die ein Mensch idealiter zu erreichen hätte. Der zweite Grundaspekt der Bedeutung besteht im (zunächst räumlichen) Abgetrennt-Sein des Individuums von anderen Objekten, das auf symbolischer Ebene dann als seine Besonderheit (Differenz) verstanden wird.

Diese Vorstellung von der Einzigartigkeit und Entwicklungsfähigkeit des Einzelnen, wie wir sie kennen und pflegen, ist das spezifische Produkt eines komplexen und langwierigen europäischen Kulturprozesses. Aus historischer Sicht ist Individualität ein vergleichsweise junges Konzept, das weder Antike noch Mittelalter in unserem Sinn entwickelt haben.
Das Individuum in Antike und Mittelalter
Diese kennen zwar Formen der Beschäftigung mit dem Selbst, z.B. Praktiken der asketischen Selbstformung und -beherrschung, aber bei diesen geht es gerade nicht um die Eigenheit des Einzelnen, sondern um dessen Tauglichkeit für Gott oder die Polis.

Was bei Augustinus individualistisch anmuten mag, bleibt doch letztlich stets auf ein göttliches Allgemeines hin perspektiviert. Nicht um seiner selbst willen, sondern der Bekehrungswirkung wegen entfaltet der Kirchenvater Details aus seiner Biographie.

Das christliche Mittelalter stellte jedoch eine unverzichtbare Voraussetzung für die Entstehung von Individualität im modernen Sinne bereit, maß das Christentum doch der Einzelseele eine gegenüber antiken Denkmustern unerhörte Bedeutung bei.
Geburt der Individualität in der Renaissance
Wie bei so vielen kulturellen Konzepten, die uns heute teuer sind, liegt der Anfangspunkt der Entwicklung in Renaissance und Reformation, in der konventionelle Formen der Selbstdarstellung vielfach nicht mehr zu befriedigen vermochten. Der berühmteste und avancierteste Fall sind hier wohl die "Versuche" des Bürgermeisters von Bordeaux, Michel de Montaigne.

Seine "Essais" (1580) entstehen zwar in enger Rückbindung an die zeitgenössische Gelehrtenkultur des Humanismus, sind aber in der Kombination aus intensiver, auch körperorientierter Selbstbeobachtung in der Landessprache und dem Verzicht auf jegliche transzendente Perspektive ziemlich einzigartig.

Keinesfalls repräsentieren sie etwas wie einen allgemein erreichten Standard, sondern markieren in ihrer Zeit eine Art Leuchtturmposition. In großem Maßstab geht eine (äußerst langsame) Aufwertung des Neuen (und daher anderen) als ästhetische und lebenspraktische Kategorie einher mit vermehrter sozialer Mobilität einerseits und einer stärker persönlich gefärbten Religionsausübung andererseits.
Revolution der Vereinzelung
Dieser widersprüchliche und rückschlägige Prozess erreicht mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, insbesondere mit dessen letztem Drittel, eine neue Qualität, die es durchaus rechtfertigt, von Emergenz zu sprechen.

Die Revolutionszeit mit ihrem Vor- und Nachspiel bildet eine Periode nicht nur politischen, sondern auch emotionalen und denkerischen Aufruhrs, in der die Vereinzelung und Eigenheit des Ich in Kunst und Philosophie neu gedacht wird.
Rousseau prägte die Faszination des Ich
Rousseau treibt die Montaignesche Selbstbetrachtung in eine neue Dimension. Seine "Confessions" (abgeschlossen 1770) legen nicht nur körperliche und seelische Schwächen bloß, sie thematisieren sexuelle Abweichung und vor allem sprechen sie dem Subjekt eine neue Position zu.

Die bescheiden-skeptische Haltung Montaignes wird ersetzt durch eine narzisstische Faszination für das eigene Ich, das auch verwerfliche Handlungen durch seine ganz persönliche Geschichte gerechtfertigt sieht.

Rousseau steht mit dieser Haltung am Anfang einer modernekonstitutiven Tradition, der Dichtung, wie Kunst insgesamt, nun primär als Ausdruck einer einzigartigen Persönlichkeit gilt. Diese Vorstellung beherrscht die Romantik, wirkt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein und hat, aller Kritik zum Trotz, auf populärer Ebene ihre Strahlkraft auch heute noch nicht verloren.
Künstlerische Freiheit als Vorbild für alle
Der Künstler gilt als Individuum par excellence, dem aufgrund seiner Einzigartigkeit die Überschreitung bestimmter Grenzen gestattet ist, ja sie wird geradezu von ihm erwartet. Ein Blick auf die Alltagskultur unserer Gegenwart belegt, dass dieses Bild als Individualisierungsmuster übernommen worden ist, an dem sich in einem gewissen Rahmen nun auch der Normalverbraucher orientiert.

Jüngstes Beispiel für die Popularisierung der Ausdrucksästhetik dürfte die aus der Studentenrevolte von 1968 entwickelte Figur der "Selbstverwirklichung" sein, deren Attraktivität, verstärkt durch die Möglichkeiten unseres Wirtschaftssystems, ungebrochen scheint.

[9.8.07]
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Über die Autorin
Bettina Gruber lehrt als außerplanmäßige Professorin an der Ruhr-Universität Bochum Neure Deutsche sowie Vergleichende Literaturwissenschaft.
Gastprofessuren: Karl-Franzens-Universität Innsbruck, Emory-University, Atlanta.
Veröffentlichungen: Die Seherin von Prevorst. Romantischer Okkultismus als Religion, Wissenschaft, Literatur. Paderborn 2000; Literatur und Religion. Eine Einführung. UTB 2008.
Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte, Literaturtheorie, Kulturwissenschaft, insbesondere Literatur und Religion.
->   Bettina Gruber, Ruhr-Universität Bochum
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Weitere Beiträge zu den Seminaren des Europäischen Forums Alpbach 2007:
->   Hans Markowitsch: Evolution des menschlichen Gedächtnisses (3.8.07)
->   Patrick Werkner: Kunst-Diskussion - "Geldanlage" und "Wertsteigerung" (1.8.07)
 
 
 
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01.01.2010