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Was ist Emergenz?  
  "Emergence - die Entstehung von Neuem" ist das Motto des heurigen Europäischen Forums Alpbach, das am Donnerstag beginnt. In den Kognitionswissenschaften und der Philosophie des Geistes hat der Begriff der Emergenz seit rund 15 Jahren an Wichtigkeit zugenommen. Er bezeichnet aber nicht immer das gleiche, betont der Philosoph Achim Stephan in einem Gastbeitrag. Stephan leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2007 ein Seminar zum Thema "Emergence in Science and Philosophy".  
Was gemeint sein kann, wenn jemand "emergent" sagt
Von Achim Stephan

Anders als im Deutschen hat der Ausdruck "emergent" im Englischen neben einer fachsprachlichen auch eine alltagssprachliche Bedeutung. Im alltagssprachlichen Gebrauch bezeichnen die Worte "to emerge" oder "the emergence of" vor allem das Auftauchen oder In-Erscheinung-Treten einer vorübergehend verborgenen oder bis dahin noch nicht existierenden Sache oder Eigenschaft. Buchtitel wie "The Emergence of Symbols" machen Gebrauch von dieser alltagssprachlichen Bedeutung.

Unter den technischen Verwendungsweisen sind mehrere Varianten zu unterscheiden. In der Regel assoziiert man mit der Emergenz von Systemeigenschaften, dass diese genuin neuartig oder prinzipiell unvorhersagbar oder irreduzibel sind. In einem schwächeren Sinn gelten mitunter bereits Systemeigenschaften als emergent, die einem System als solchem, aber keinem seiner einzelnen Bestandteile zukommen.
Starker oder schwacher Emergenzbegriff
Die verschieden starken Emergenzbegriffe basieren auf der gemeinsamen Annahme, dass die Systeme, die emergente Eigenschaften haben, ausschließlich aus physischen Entitäten bestehen, also keine übernatürlichen Komponenten wie Entelechien oder eine res cogitans haben. Insofern sind Emergenztheorien nicht substanz-dualistisch.

Auch wird davon ausgegangen, dass die möglichen Eigenschaften und Verhaltensdispositionen eines Systems vollständig durch dessen Mikrostruktur festgelegt werden. Danach kann es keinen Unterschied in den Systemeigenschaften geben, ohne dass es zugleich Unterschiede in der Anordnung oder in den Eigenschaften der Systembestandteile gibt.
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Achim Stephan leitet gemeinsam mit Robert Richardson beim Europäischen Forum Alpbach 2007 das Seminar "Emergence in Science and Philosophy" (17.-22.8.2007). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Details zum Seminar
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Statt Dualismus und Reduktion
In der Philosophie des Geistes und in der Kognitionswissenschaft erlebt der Begriff der Emergenz seit den frühen 1990er Jahren eine nachhaltige Renaissance. Er wird einerseits dazu verwendet, eine mittlere Position in der Leib-Seele-Debatte zu formulieren, die den besonderen philosophischen Schwierigkeiten Rechnung trägt, die sich um mentale Eigenschaften ranken. Diese gelten als auffallend widerspenstig.

Einige Autoren zweifeln gar daran, dass es jemals gelingen wird, bestimmte mentale Eigenschaften wie z.B. das Haben phänomenaler Erlebnisse reduktiv zu erklären: Selbst wenn wir alles über die neuronalen Korrelate bewusster psychischer Vorgänge wüssten, selbst wenn wir angeben könnten, wie sich jedes einzelne Neuron und jede einzelne Synapse verhält, scheint nicht ausgemacht zu sein, dass wir dann in der Lage wären, die mit diesen Vorgängen korrelierten mentalen Eigenschaften reduktiv zu erklären.

Der Grund dafür wären nicht etwa mangelnde Einsichten der Neurowissenschaften, sondern vielmehr, dass es nicht zu gelingen scheint (und zwar im Prinzip nicht), phänomenale Qualitäten begrifflich adäquat über ihre kausale Rolle zu "bestimmen". In diesem Kontext sind Emergenztheorien weder reduktionistisch noch substanz-dualistisch.
Erstaunliche Wirkung vieler kleiner Ursachen
Andererseits dient der Emergenzbegriff in anderen Bereichen der Kognitionswissenschaft wie der Künstlichen Intelligenz oder der Robotik mitunter nur dazu, nicht explizit programmierte, im Rahmen von Selbstorganisationsprozessen entstehende Verhaltensweisen künstlicher Systeme treffend zu beschreiben. Oder er charakterisiert Verhaltensweisen komplexer dynamischer Systeme, die auf der Makroebene erstaunliche Muster und Regelmäßigkeiten zeigen.

Deren Verhalten kann häufig auf einfache Interaktionen einer Vielzahl einfacher Komponenten zurückgeführt werden und erweist sich keinesfalls als widerspenstig gegenüber reduktiven Erklärungen. Besonders überzeugend gelingt dies bei Artificial-Life-Installationen, die die Bewegungsmuster von Vogel- oder Fischschwärmen simulieren.
Der Kontext bestimmt den Emergenzbegriff
Eine nähere Betrachtung zeigt also, dass es keinen einheitlichen Emergenzbegriff gibt, der beiden Gegenstandsbereichen gerecht wird: Die Kandidaten für Emergenz in der Philosophie des Geistes und in der Kognitionswissenschaft sind zu verschieden voneinander.

Mentale Phänomene, die sich als sperrig gegenüber reduktiven Erklärungsversuchen erweisen und deshalb als irreduzibel gelten, erfordern für ihre Klassifikation einen starken Emergenzbegriff, der im Rahmen metaphysischer Fragestellungen eine große Bedeutung für die Philosophie des Geistes hat, in den übrigen Disziplinen der Kognitionswissenschaft (und in den Naturwissenschaften) aber so gut wie keine Rolle spielt. Dort wird in der Regel sehr viel weniger behauptet, wenn von emergenten Eigenschaften die Rede ist.
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Über den Autor
Achim Stephan ist seit 2001 Professor für Philosophie der Kognition am Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück. Gastprofessuren am Humboldt-Studienzentrum der Universität Ulm, an der VU Amsterdam. Gemeinsam mit Henrik Walter Leiter des interdisziplinären Forschungsprojektes animal emotionale.
Publikationen: Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation (Dresden: DUP 1999; 3. Aufl. Paderborn: mentis 2007); Phänomenales Bewusstsein - Rückkehr zur Identitätstheorie? (Hg. mit M. Pauen; Paderborn: mentis 2002);
->   Achim Stephan, Universität Osnabrück
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Weitere Beiträge zu den Seminaren des Europäischen Forums Alpbach 2007:
->   Bettina Gruber: Wie das Individuum zur Welt gekommen ist (9.8.07)
->   Hans Markowitsch: Evolution des menschlichen Gedächtnisses (3.8.07)
->   Patrick Werkner: Kunst-Diskussion - "Geldanlage" und "Wertsteigerung" (1.8.07)
 
 
 
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01.01.2010