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Kreativität als Wachstumsfaktor der Wirtschaft  
  Die Wirtschaft hat vor einiger Zeit die Kreativität als Wachstumsfaktor entdeckt: Was etwa früher Unterhaltungsbranche hieß, wird heute von vielen Kreativindustrie genannt. Demensprechend wichtig ist auch die Förderung "kreativer Milieus" geworden. Laut Forschern sind sie überall dort zu finden, wo regionale Netzwerke funktionieren. Das Zusammenspiel von Akteuren quer durch alle gesellschaftlichen Bereiche wirkt befruchtend und kann die vielgesuchten "kreativen Milieus" etablieren, schreibt der Historiker Jürgen Nautz in einem Gastbeitrag. Er leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2007 ein Seminar zu diesem Thema.  
Wesen und Form kreativer Milieus
Von Jürgen Nautz

Wenn über "kreative Milieus" diskutiert wird, taucht rasch die Frage auf: Wie entstehen kreative Milieus? Sind sie planbar? Eine Gruppe denkt, ja. Es wird sogar Handwerkszeug angeboten: So bietet Charles Landry ein Buch mit dem Titel "The Creative City: A Toolkit for Urban Innovators" an.

Die Gegenposition ist die Auffassung, dass kreative Milieus emergent sind. Das heißt, sie entstehen durch die Selbststeuerung eines Systems, z.B. von regionalen Netzwerken, und sind eben nicht von der Umwelt initiiert.
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Jürgen Nautz leitet gemeinsam mit Allan Janik beim Europäischen Forum Alpbach 2007 das Seminar "Was sind kreative Milieus?" (17.-22.8.2007). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Details zum Seminar
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Suche nach dem Weg aus der Krise
Die wirtschaftlichen Krisen seit den 1970er Jahren haben verstärkt die Grundlagen für eine positive Entwicklung der Ökonomie thematisiert. Interessanterweise wandte man sich in Österreich, korreliert zu den anwachsenden wirtschaftlichen Problemen und den damit verbundenen gesellschaftlichen und politischen Ratlosigkeiten, dem Phänomen "Wien um 1900" zu, auf der Suche nach Wegen aus aktuellen Verunsicherungen.

Die ÖFG-Arbeitsgemeinschaft "Wien um 1900" widmete sich nicht zuletzt immer wieder dieser Frage, wenn sie Wien um 1900 als kreatives Milieu untersuchte. Die aktuelle Beschäftigung mit kreativen Milieus bezieht sich vor allem auf Entwicklungen in der Regionalforschung, wo sich seit Mitte der 1980er Jahre der Begriff des innovativen bzw. kreativen Milieus herausgebildet hat.
Kreativ: Netzwerke wichtiger Akteure
Prominent machten ihn die Studien der französischen Forschungsgruppe "Groupe de Recherche Européen sur les Milieux Innovateurs" (GREMI). Das Konzept des kreativen Milieus soll erklären, warum einige Wirtschaftsregionen erfolgreicher sind als andere. Warum lag die Keimzelle der europäischen Industriellen Revolution in Südengland und nicht im Raum Nürnberg-Fürth oder in der Mürzfurche?

Es wird davon ausgegangen, dass für eine positive Regionalentwicklung die besondere Qualität der Kooperation wichtiger Akteure aus verschiedenen Organisationen ursächlich ist. Insbesondere sind dies personale (informelle) Netzwerke. Regional wichtige Informationen werden effizienter ausgetauscht und verwertet, das Innovationspotential der Firmen auf eine sozial fundierte Basis gestellt.

Ein kreatives Milieu entsteht, so eine weithin akzeptierte Position, durch die Kombination dichter informell-sozialer Beziehungen von qualifizierten Entscheidungsträgern mit einem nach außen wie innen wirkenden positiven Image sowie einem regionalen Zusammengehörigkeitsgefühl. Es kommt zu kollektiven Lernprozessen und einer Steigerung der regionalen Innovationsfähigkeit.
Keine ganz neue Diskussion
Diese Diskussion über die "conditions of excellence" ist keine neue Erscheinung. Es gibt Traditionslinien mit europäischen Wurzeln. Sie zeigen u. a. eine Verwandtschaft zum Institutionalismus, wie er in der Neuen Deutschen Historischen Schule zum Ausdruck gekommen ist und in modifizierter Form in den USA durch die Neue Institutionenökonomik wieder aufgegriffen wurde.

Diese Denkrichtung betont, dass wirtschaftliche Entwicklungen nicht allein mit ökonomischen Datensätzen zu begreifen sind. Wirtschaftliche Prozesse haben mentale, soziale, normative und politische Ursachen. So fußte die Industrielle Revolution in Europa auf einem Wandel im Denken der politischen und wirtschaftlichen Eliten im späten 18. und im 19. Jahrhundert.

Ein Grund weshalb Joel Mokyr von der "industriellen Aufklärung" spricht. Neben den oft genannten Zielen der Aufklärung (Befreiung von der Sklaverei, Trennung von Staat und Kirche usw.) ging es zentral um Naturbeherrschung. Die Verwissenschaftlichung der wirtschaftlichen Tätigkeit und der anderen Lebensbereiche war Voraussetzung dafür, dass die Industrielle Revolution nicht im Sande verlief, sondern nachhaltig wirkte.
Informelle Beziehungen, zusammengeführt
Interessant ist, weshalb einmal individuelle Kreativität - Erfindungen - in Innovation und schließlich in Dynamik mündet und ein anderes Mal nicht: Auch im Mittelalter gab es Kreativität und Innovation. Aber es gab keine Nachhaltigkeit, keine Weiterentwicklung. Warum war dies im 18. und 19. Jahrhundert in England und dann in Kontinentaleuropa anders?

Weil man die Dinge durchdringen, sie verstehen wollte. Es ist also die Verknüpfung von verschiedenen Prozessen in der gesamten Gesellschaft, die zu solchen Innovationsschüben führt. Diese Wirkungszusammenhänge sind es, die in der Forschung über kreative Milieus im Zentrum des Interesses stehen.

Camagni, einer der prominenten Vertreter der GREMI, definiert Milieu als ein komplexes Netzwerk aus hauptsächlich informellen sozialen Beziehungen in einem begrenzten geographischen Raum, durch das sich ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln kann, welches das regionale Innovationspotenzial durch Synergie- und kollektive Lernprozesse stärkt.
Verknüpfungen von der lokalen bis zur internationalen Ebene
In erfolgreichen kreativen Milieus spielen tatsächlich Netzwerke, die die unterschiedlichen Akteure verbinden, eine zentrale Rolle. Die Akteure sind Hochschul- und F&E-Einrichtungen, regionale KMU, einige überregionale Großunternehmen sowie Behörden und Verbände, zwischen denen ein intensiver Informationsaustausch stattfindet.

In kreativen Regionen entfalten sich Verflechtungen zwischen lokalen und regionalen klein- und mittelständischen Unternehmen, nationalen und transnationalen Großunternehmen mit Forschungs- und Bildungseinrichtungen sowie Entscheidungsträgern der lokalen und regionalen Politik.
Netzwerke sind Voraussetzung, ...
Solche Netzwerke zeichnen sich durch einen ebenso offenen wie intensiven Austausch von Informationen aus, womit Lernprozesse in Gang gesetzt werden, die Voraussetzung für ein kreatives Milieu sind. Ein kreatives Milieu ist ein räumlicher Komplex in dem Normen und Werte sowie ein Kapital an sozialen Beziehungen integriert und beherrscht werden (Crevoisier).

Diese Netzwerke stärken im positiven Fall die Lern- und Innovationsfähigkeit und damit den wirtschaftlichen Erfolg einer Region, im negativen Fall können sie diese aber auch be- oder verhindern, wie dies z.B. bei der Schweizer Uhrenindustrie der Fall war.

Nicht nur dieses Beispiel zeigt, dass zu enge regionale Netzwerke durch Voreingenommenheit und einen Mangel an äußeren Informationen die Kreativitäts- und Innovationsbildung behindern können.
... aber keine Garantie für kreative Milieus
Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen haben typische Merkmale von kreativen Milieus und Regionen herausdestilliert. Ein zentraler Streitpunkt bleibt die Frage, ob diese emergent sind oder ob sich kreative Milieus kreieren lassen.

Unbestreitbar gibt es förderliche Bedingungen. Fraglich ist jedoch, ob die Schaffung der "conditions of excellence" tatsächlich folgerichtig ein kreatives Milieu erzeugt. Skepsis ist angebracht: Die meisten Zeitgenossen des Wiener Fin de Siècle waren pessimistisch. Das Schlagwort jener Jahre lautete: Österreich wurstele sich durch. Die Kreativität hat man in der Breite erst später erkannt.

[17.8.07]
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Über den Autor
Jürgen Nautz studierte nach dem Abendgymnasium Geschichtswissenschaft, Philosophie, Betriebswirtschaftslehre und Spanisch in Düsseldorf, Köln, Aachen, Kassel und Wien. Er ist Dozent für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Wien.
Visiting Fellowships am Duitsland Instituut Amsterdam und am Wissenschaftszentrum Berlin.
Netzwerkstrukturen im Frauenhandel im 20. Jahrhundert, in: Hartmut Berghoff & Jörg Sydow (Hg): Unternehmerische Netzwerke Eine historische Organisationsform mit Zukunft?, München: Kohlhammer Verlag 2007; State and Civil Society. Hg. mit Emil Brix, Rita Trattnigg und Werner Wutscher, Wien: Passagen Verlag 2007.
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Weitere Beiträge zu den Seminaren des Europäischen Forums Alpbach 2007:
->   Achim Stephan: Was ist Emergenz? (14.8.07)
->   Bettina Gruber: Wie das Individuum zur Welt gekommen ist (9.8.07)
->   Hans Markowitsch: Evolution des menschlichen Gedächtnisses (3.8.07)
->   Patrick Werkner: Kunst-Diskussion - "Geldanlage" und "Wertsteigerung" (1.8.07)
 
 
 
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01.01.2010