News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Schulen: Neue Strategien für die Mehrsprachigkeit  
  Rund 20 Prozent aller Pflichtschüler in Österreich haben eine andere Muttersprache als Deutsch, in Wien sind es fast 50 Prozent. Das stellt Pädagoginnen und Didaktiker vor ganz neue Aufgaben. Der Sprachwissenschaftler Rudolf de Cillia von der Universität Wien hat einige innovative Lösungsstrategien: Sprachlehrer sollten nicht ausschließlich fächerspezifisch ausgebildet werden, sondern sprachenübergreifend und sich so als "Experten für Mehrsprachigkeit" verstehen.  
Die Alphabetisierung der zweisprachigen Kinder sollte in der Volksschule in zwei Sprachen erfolgen und Mehrsprachigkeit prinzipiell als wertvoll anerkannt werden - gleichgültig, um welche Sprachen es sich handelt.

De Cillia nimmt diese Woche an einem Arbeitskreis im Rahmen des "Romanistentags" an der Uni Wien teil. Er sprach vorab mit science.ORF.at über seine Ideen, die er als "Paradigmenwechsel im Umgang mit Mehrsprachigkeit an den Schulen" bezeichnet.
...
Romanistentreffen an der Uni Wien
Vom 23. bis 27. September findet an der Uni Wien der 30. Romanistentag unter dem Motto "Romanistik in der Gesellschaft" statt. An dem alle zwei Jahre veranstalteten Kongress des Deutschen Romanistenverbandes (DRV) nehmen rund 500 internationale Experten teil. Neben dem wissenschaftlichen Austausch und der Weiterbildung werden neue Arbeitsformen für die Lehre der Romanistik vorgestellt. Die Plenarvorträge sind auch für eine interessierte Öffentlichkeit zugänglich.
->   Information und Programm des Romanistentags
...
Wien: Hälfte der Pflichtschüler mit anderer Muttersprache
Während an Eliteschulen Fremdsprachen gewünscht sind, werden Migrantensprachen in der durchschnittlichen Volks- oder Hauptschule von der Gesellschaft vor allem als Problem wahrgenommen. Der Unterschied liegt im Detail: Sprachen wie Englisch oder Französisch gelten besorgten und sozial zumeist besser gestellten Eltern als Schlüssel für den späteren Erfolg ihrer Sprösslinge. Türkisch oder Serbokroatisch hingegen verweisen auf "Kinder mit Migrationshintergrund", deren Nähe sozialen Aufstieg nicht gerade begünstigt.

Der Status Quo an Österreichs Schulen laut de Cillia: Knapp 19 Prozent aller Volksschüler hatten im Schuljahr 2005/06 Deutsch nicht als Muttersprache, 18 Prozent der Pflichtschüler und elf Prozent der AHS-Schüler. Ihr Anteil hat sich im Vergleich zu 1998/99 in fast allen Schultypen um rund die Hälfte erhöht.

In Wien hatten 2005/06 48,4 Prozent der Pflichtschüler eine andere Muttersprache als Deutsch, in der Volksschule waren es 45 Prozent, in der Hauptschule 54 und in der AHS 23,5 Prozent. Politischer Handlungsbedarf ist damit allemal gegeben.
Entwicklung eines Gesamtsprachenkonzepts
De Cillia spricht sich für einen integrativen Zugang zum Sprachunterricht aus. "In der Spracherwerbsforschung hat sich in den vergangenen 40 Jahren sehr viel getan. Früher hat man geglaubt, Zweisprachigkeit ist gefährlich und führt zu Persönlichkeitsstörungen. Heute weiß man, dass wir in frühen Jahren problemlos zwei oder drei Sprachen erwerben können. Meine These: Die Schulen haben darauf nicht adäquat reagiert."

Deswegen plädiert er für die Entwicklung eines Gesamtsprachenkonzepts nach Schweizer Vorbild. Landesweit und regional soll es dabei eine Bestandsaufnahme davon geben, welche Sprachen welche Rolle spielen.

"Und dann sollte man den unterschiedlichen Status der Sprachen - Muttersprache, Elitesprache [Anm. wie Englisch oder Französisch], autochthone Minderheitensprache, Migrantensprache, Gebärdensprache - aufbrechen und ein sinnvolles Curriculum entwickeln."
"Experten für Mehrsprachigkeit" statt Sprachlehrern
Dazu müsse sich freilich in den Köpfen der Lehrer einiges ändern. Diese seien gewohnt, den Deutsch-, Englisch- oder Französischunterricht separiert zu sehen, ohne Querverbindungen oder Vernetzungen. De Cillia zufolge müssten Sprachenlehrer hingegen "Experten für Mehrsprachigkeit" sein.

Ein konkreter Vorschlag, um das zu erreichen: Die Lehrer sollten bereits in der Ausbildung eine andere Sprache lernen als jene, die sie unterrichten - ganz einfach, um persönlich diese Lernerfahrung zu machen.

Im Endeffekt sollten Fächer wie Deutsch nicht vom Lehrplan verschwinden, die Lehrer und Lehrerinnen müssten aber Querverbindungen herstellen können und sich bewusst sein, dass sie nicht nur Deutsch unterrichten, sondern Sprachfähigkeit allgemein.
Zweisprachige Alphabetisierung
Weitere Vorschläge des Sprachwissenschaftlers: Alle Lehrer und Lehrerinnen, inklusive der Kindergartenpädagoginnen, sollten gemeinsam ausgebildet und für Mehrsprachigkeit qualifiziert werden. In den Volksschulen sollte es zu keiner Trennung in verschiedene Sprachgruppen kommen.

Und laut de Cillia ganz besonders wichtig: Lesen- und Schreibenlernen von zweisprachigen Kindern in zwei Sprachen, da die "Alphabetisierung in der Muttersprache wichtig für den Erwerb der Zweitsprache" sei.
Niveau der Erstsprache bestimmt Fremdsprache
Die Angst, dass die deutschsprachigen Kinder in mehrsprachigen Schulen nun etwa Türkisch lernen müssten statt umgekehrt, ist laut de Cillia unbegründet. "Damit kein Missverständnis besteht: Es ist ganz wichtig, dass alle, die hier leben, die Staatssprache Deutsch möglichst gut beherrschen, das ist eine Schlüsselqualifikation."

Er hält es aber für falsch, dabei auf die Muttersprache zu vergessen. "Die Spracherwerbsforschung sagt das Gegenteil: Wenn ich eine Zweit- oder Fremdsprache lernen will, muss ich eine gut ausgebildete Muttersprache haben. Das Niveau, das ich in einer Zweit- oder Fremdsprache erreichen kann, ist unmittelbar abhängig vom Niveau der Erstsprache."
...
Aufgabe auch für die Romanistik
De Cillia, der selber auch Romanist ist, hält auch die Förderung von Mehrsprachigkeit in der Romanistik für sinnvoll: Bei der zweiten Fremdsprache, die in Österreich in der Regel eine romanische Sprache ist (französisch, italienisch, spanisch), könnten durch ein integratives Konzept Synergien erzeugt werden. Etwa durch eine Gestaltung des Französischunterrichts dergestalt, "dass die Schüler nicht nur diese Sprache lernen, sondern rezeptiv auch die beiden anderen romanischen Sprachen zumindest verstehen", so wie es in den sogenannten Eurocomprehensions-Konzepten vorgeschlagen wird.
->   Eurocomprehensions-Konzepte
...
Gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen
Die unterschiedlichen Sprachniveaus sollten nach Ansicht von de Cillia auch in der Leistungsbeurteilung berücksichtigt werden, z.B. bei der AHS-Reife.

"Jetzt ist es so, dass die Kinder mit zehn Jahren aufgeteilt werden: Die 'Guten' ins Gymnasium, die 'Schlechteren' in die Hauptschulen. Weil dabei eines der zentralen Kriterien die Deutschnote ist, wird klar, warum so wenige Kinder mit Migrationshintergrund in die AHS gehen. Wenn hingegen berücksichtigt würde, dass das mehrsprachige Kinder sind, die nicht so gut Deutsch können, dann sieht das ganz anders aus."

Die beste Lösung sei aber die derzeit politisch so umstrittene gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen. "Die frühe Selektion der Kinder ist total kontraproduktiv für die Mehrsprachigkeit", so de Cillia.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 24.9.07
->   Rudolf de Cillia, Uni Wien
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   OECD: Mangelhafte Förderung von Migrantenkindern (18.9.07)
->   Linguist: "Ethnolekt" im Vormarsch (26.2.07)
->   Selbstvertrauen fördert Sprachkompetenz (19.12.05)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010