News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 
Kindesmisshandlung: "Werk der Zerstörung"  
  Wer selbst misshandelt wurde, greift auch als Jugendlicher und Erwachsener häufig zu Gewalt als Mittel der Problemlösung. Dieser Zusammenhang wurde erst jüngst wieder durch Studien in den USA belegt und gilt auch für Österreich, wie der Jugendpsychiater Ernst Berger im Gespräch mit science.ORF.at bestätigt.  
Misshandlungen richten in der Persönlichkeit ein "Zerstörungswerk" an, dessen Auswirkungen sich durch Aggressionen gegen die Umwelt oder schwer wiegende psychische Erkrankungen zeigen können, so Berger.

Dass sich im Gehirn frühe Misshandlungserfahrungen neurologisch spiegeln, sei zwar richtig. Die Biologie alleine zeichne aber keinen Weg in die Straffälligkeit vor.
science.ORF.at: In einer Studie im Journal "Child Maltreatment" hieß es jüngst: "Als Kind misshandelt zu werden erhöht die Wahrscheinlichkeit, als Jugendlicher straffällig zu werden, um 59 Prozent, als Erwachsener um 28 Prozent und die Wahrscheinlichkeit für gewalttätige Kriminalität um 30 Prozent". Können Sie das bestätigen?

Ernst Berger: In der Kinder- und Jugendpsychiatrie können wir das absolut bestätigen. Wir wissen, dass jugendliche Täter bei der Entschlüsselung ihrer Biografie immer wieder als frühere Opfer erkannt werden.
Die Forscher führen verinnerlichten Ärger als ein Hauptmotiv an, das zu Straffälligkeit führt. Werden Sie in der Praxis mit diesem Ärger konfrontiert?

Der innere Ärger spielt sicherlich eine Rolle, ich würde ihn aber nicht überbewerten. Vertrauensverlust, Enttäuschungen, Schwierigkeiten aufgrund des Vertrauensverlusts, Bindungen einzugehen, sich auf andere Menschen zu verlassen und vertrauensvoll in die Zukunft zu schauen, das ist das Spektrum von Problemen, denen wir begegnen.
In US-Studien wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Herkunft und Geschlecht eines Kindes bzw. Jugendlichen eine große Rolle für den Gebrauch von Gewalt spielen. Wie beurteilen Sie diesen Zusammenhang?

Ich bin gegenüber dem Herausfiltern so spezifischer Korrelationen wie etwa zwischen Gewalt und ethnischer Herkunft sehr skeptisch. Meiner Meinung nach bringt das nichts. Wir sehen, dass Gewalterlebnisse in der Kindheit zu einer ganzen Reihe von Symptomen führen können.

In den Studien wird ja auch darauf hingewiesen, dass man die introvertierten Störungen nicht vergessen darf: Depressionen, Selbstwertverlust, tief greifende Störungen der Persönlichkeitsentwicklung bis hin zu schwersten Depressionen mit Selbstmordtendenzen.

Störungen, die nicht in extravertierte Gewalt umschlagen, sondern sich gegen die eigene Persönlichkeit wenden, richten dort ein Werk der Zerstörung an und führen zu schweren Erkrankungen, die man auf den ersten Blick oft gar nicht mit den biografischen Belastungen in Zusammenhang bringt.
...
Betreuung traumatisierter Jugendlicher
Wird in Österreich ein Missbrauchsfall bekannt, gibt es bei der Jugendwohlfahrt und in - meist privat organisierten und öffentlich finanzierten - Krisenzentren Hilfsangebote (beispielsweise "Die Boje" in Wien). Kinder- und jugendpsychiatrische Einrichtungen bieten ambulante und stationäre Betreuung. Bei einem Misshandlungsfall sei es wichtig, schnell zu intervenieren und danach mittel- und langfristig psychotherapeutische Hilfe anzubieten. Für eine umfassende Betreuung sei "zweifelsohne mehr Angebot nötig", so Jugendpsychiater Berger.
->   "Die Boje"
...
Wie sieht es mit dem Unterschied zwischen Mädchen und Burschen aus?

Diesen Unterschied gibt es, wie allgemein bekannt hängt es mit der Sozialisation zusammen, dass Burschen aufgestaute Probleme eher in Aggressivität gegenüber der Umwelt äußern und Mädchen sie vermehrt introversiv verarbeiten.

Aber auch das ändert sich: Mit der Lockerung der Geschlechterrollen sehen wir in der kinderpsychiatrischen Praxis auch erstaunliche Aggressionshandlungen von Mädchen nach Gewalterlebnissen. Ich habe ein Mädchen in Erinnerung, das wir lange betreut haben und das dann in Haft kam, weil sie einer Sozialpädagogin bei einer Auseinandersetzung mit einer Schere in den Rücken gestochen hat.
Misshandlung kann unterschiedliche Formen annehmen: Vernachlässigung und Nahrungsentzug, aber auch sehr aggressive Formen von Gewalt wie körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch. Äußern sich unterschiedliche Arten von Gewalt in verschiedenen Kriminalitätsformen?

Es gibt bei uns keine Studien dazu, insofern ist der Boden, auf dem man sich bewegt, ein bisschen unsicher. Aber auf Basis der klinischen Erfahrung würde ich sagen, dass das eigene Erleben von unmittelbarer Gewalt die Wahrscheinlichkeit, selbst gewalttätig zu werden, stark erhöht. Ich würde aber nicht zwischen sexueller und nicht-sexueller Gewalt unterscheiden: Missbrauch ist nichts anderes als Gewalt, eben mit einem sexuellen Anteil.
...
Zur Person
Ernst Berger arbeitet als Psychiater an der Abteilung für Jugendpsychiatrie der "Psychosozialen Dienste Wien" und leitet die Arbeitsgruppe Rehabilitation/Integration an der Medizinischen Universität Wien. Er ist Mitglied des Betreuungsteams von Natascha Kampusch.
->   Zur Arbeitsgruppe
...
Die Gehirnforschung ist in Mode, auch für Kriminalität nach Missbrauch werden neurologische Grundlagen gesucht. US-Forscher sagen, dass dysfunktionale kognitive Prozesse neurologisch "zementiert" werden - liegt da nicht das Argument auf der Hand, dass man dann nichts mehr machen kann?

Es gibt einen gut belegten Zusammenhang von früher Traumatisierung und neuronaler Entwicklung. Gleichzeitig muss man den Zusammenhang zwischen biologischer Grundlage und psychosozialer Entwicklung relativ sehen: Wir arbeiten in der Kinderpsychiatrie mit der "Vulnerabilitätshypothese", die davon ausgeht, dass unser gesamtes Leben von schützenden und belastenden Faktoren geprägt ist. Solche Faktoren findet man auf der biologischen, psychischen und sozialen Ebene. Je mehr belastende Faktoren auf allen drei Ebenen jemand mitbringt, desto größer ist sein Risiko, psychisch zu erkranken.
In den USA gibt es Straflager für Jugendliche. Kennen Sie Untersuchungen, mit welchen Erfahrungen die Jugendlichen solche "Abschreckungsanstalten" verlassen?

Soweit ich weiß, gibt es dazu keine Untersuchungen. Für Europa muss man darauf hinweisen, dass es in unseren Breiten Derartiges bereits gab. Wir hatten nationalsozialistische Konzentrationslager für Jugendliche mit Sozialisationsstörungen und Delinquenz: Uckermark für die Mädchen, Moringen für die Burschen.

Zum Glück sind in Österreich nie solche Einrichtungen nach US-Vorbild gefordert worden. Es gibt auch aus der Pädagogik und der Kinder- und Jugendpsychiatrie keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese Methoden etwas Nützliches hervorbringen.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 19.10.07
...
Kinder-Schwerpunkt im ORF
Von 19. bis 26. Oktober 2007 läuft der ORF-Schwerpunkt zu "Kinder - Träume.Leben.Zukunft". Zahlreiche Sendungen in Fernsehen und Radio sowie Beiträge im Internet widmen sich im Rahmen dieses dritten ORF-Themenschwerpunkts der Welt der Kleinen.
->   Alle Informationen zum ORF-Schwerpunkt
...
->   ORF-Notrufnummer "Rat auf Draht"
->   "Child Maltreatment"
->   Mädchen-KZ Uckermark
->   KZ-Gedenkstätte Moringen
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   Jeder dritte Schüler hatte bereits Selbstmordgedanken (28.6.07)
->   Traumata lassen das Gehirn schneller altern (26.7.06)
->   Psychiater: "Hinschauen" gegen Kinder-Missbrauch (3.3.04)
->   Kindesmisshandlung schädigt das Gehirn (25.6.02)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010