News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
"Projekt Sexpol": 50. Todestag von Wilhelm Reich  
  Der Psychoanalytiker, Sexualtherapeut und Sozialpsychologe Wilhelm Reich zählt zu den umstrittensten intellektuellen Gestalten des 20. Jahrhunderts. Sein Versuch, die Sexualität als zentrale Lebensenergie zu bestimmen, wurde enthusiastisch gefeiert, erbittert bekämpft und politisch verfolgt. Am 3. November 1957 ist Reich in einem amerikanischen Gefängnis gestorben.  
"Lasst Sexualität zu"
Zeit seines Lebens befasste sich Reich mit der Frage, wie das von der Kleinfamilie und dem kapitalistischen System deformierte Individuum wieder lustvoll leben könnte.

Er forderte dazu auf, die familiären und staatlichen Blockaden, die sich im "Charakterpanzer" des Menschen manifestierten, durch das lustbetonte Ausleben der Sexualität aufzuheben.
Charakterpanzer
Bild: Wilhelm Reich Gesellschaft
Reich in den 20er Jahren in Wien
(Bild: Wilhelm Reich Gesellschaft)
Im Kern jeder Neurose entdeckte Reich eine Unterdrückung emotionaler oder sexueller Bedürfnisse, die ihre Ursprünge bereits in der Kindheit haben. Der Widerstand manifestierte sich dabei in einer erstarrten Haltung. Reich sprach von einem "Charakterpanzer".

Durch den Konflikt zwischen moralischen Anforderungen und Triebbedürfnissen sei das Individuum gezwungen "sich sowohl gegen den Trieb wie gegen die Außenwelt abzupanzern, abzukapseln, sich kalt zu machen".

Diese Panzerung habe eine "Einschränkung des gesamten Lebensfähigkeit und Lebenstätigkeit" zur Folge.
Der Terror der Kleinfamilie
Den Keim für diese blockierende Lebensweise sah Reich in der Kleinfamilie, in der "Zwangsfamilie" mit dem Dreieck Vater, Mutter, Kind.

Die Familie, schrieb Reich in seinem Buch "Die sexuelle Revolution", sei die universelle Reproduktionsstätte einer sexuellen Verkrüppelung, sie erzeuge einen "autoritätsfürchtigen, lebensängstlichen Untertanen", die "den Boden für die diktatorischen Gelüste" verschiedener politischer Führer bereitet".
...
Biografie
Geboren wurde Wilhelm Reich am 24. März 1897 in Dobrzcynica, Galizien. Er studierte in Wien Medizin, lernte Sigmund Freud kennen und wurde in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen. Er arbeitete als Psychoanalytiker und setzte sich mit dem Marxismus auseinander. Sein Ziel war die Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse; die Grundlage dafür sah er in einer grundlegenden Reform der Sexualpolitik (Sexpol).
->   Wilhelm Reich (Wikipedia)
...
"Massenpsychologie des Faschismus"
Bild: Wilhelm Reich Gesellschaft
Reich im Labor, USA 1944
(Bild: Wilhelm Reich Gesellschaft)
In der Abhandlung über die "Massenpsychologie des Faschismus" führte Reich diese These weiter aus. Er erörterte die Frage, warum die Massen für ihre Unterdrückung votieren und den Faschismus mittragen. Dieses Problem findet sich bereits bei Baruch de Spinoza und bei dem französischen Philosophen Gilles Deleuze.

Die sexualfeindliche Erziehung, die den emotionalen Charakterpanzer produziere, so Reich, führe zu einem Stau der lebendigen Triebe. Wo die lustvolle Entladung ausbleibe, kehrten sich die Triebe um, würden destruktiv und entfalteten Pathologien. Diese Pathologien fänden im Faschismus ihr optimales Betätigungsfeld.

"Die Massen sind nicht getäuscht worden, sie haben den Faschismus in diesem Augenblick und unter diesen Umständen gewünscht" (Gilles Deleuze/Felix Guattari, "Anti-Ödipus"). Eine Einzeltherapie sei angesichts des kollektiven Phänomens unmöglich; empfohlen wird eine Prophylaxe, die eine sexualbejahende Erziehung voraussetzt.
Orgasmus statt Gesprächstherapie
Als Strategie gegen den durch die kleinbürgerliche Erziehung sexuell deformierten Menschen empfahl Reich den lustvoll erlebten Orgasmus. An die Stelle der von Sigmund Freud propagierten Gesprächstherapie setzte Reich auf "die naturgegebene Endstufe der libidinösen Entwicklung" - auf die Genitalität, so der Soziologe und Reich-Experte Helmut Dahmer.

Sie sei "die wahre Panazee (Wundermittel) zur Heilung von Individuum und Gesellschaft als Garant des individuellen Glücks und als Triebfeder der Sozialrevolution".
Eckte überall an
Reichs Thesen stießen sowohl bei den Psychoanalytikern und den marxistischen Theoretikern seiner Zeit auf großen Widerstand. Für Freud und seine Anhänger ging Reich in seinem euphorischen Lobgesang auf den Orgasmus zu weit; sie plädierten eher für die Ichstärke des Individuums.

Außerdem nahmen sie Anstoß an Reichs politischem Engagement für den Kommunismus. Dessen Vertreter waren von Reichs Faschismusanalyse wenig begeistert. Reich wurde in den 30er Jahren sowohl von der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung als auch von der Kommunistischen Partei Deutschlands ausgeschlossen.
Begründer der Körpertherapien
Bild: Wilhelm Reich Gesellschaft
Anfang der 1930er Jahre
(Bild: Wilhelm Reich Gesellschaft)
1933 emigrierte Reich nach Dänemark und Norwegen. Dort lernte er den Pädagogen Alexander S. Neill - den Begründer der antiautoritären Erziehung - kennen und befasste sich mit elektrophysiologischen und mikrobiologischen Forschungen.

Er entwickelte die "Vegetotherapie" - eine Methode, um körperliche Panzerungen abzubauen. Die Auflösung der Panzerungen sollte zu einer neuen Qualität sexueller Erlebnisfähigkeit führen.

Er wurde dadurch zum Begründer der körperorientierten Therapien, die Alexander Lowen und Fritz Perls modifizierten.
Entdeckung des Orgons
1939 erfolgte die Emigration in die USA. Dort entdeckte er die "Orgonenergie", die die psychischen und somatischen Prozesse aller lebendigen Organismen energetisch antreibt. In dieser Energieform sah Reich die Grundlage für eine wirksame Psychotherapie.

Weitere Forschungen Reichs ergaben, dass sich diese kosmische Lebensenergie nicht nur in lebendigen Organismen fand, sondern auch in der Erdatmosphäre. Mit Hilfe bestimmter Apparate - der Orgon-Akkumulatoren - war es möglich, diese Energie zu konzentrieren.
...
Veranstaltungshinweise
Am 3. November findet im Wiener 3raum Anatomietheater die Veranstaltung target=_top>"REICH andenken. Lebendig werden" statt. Ab 16. November zeigt das Jüdische Museum in Wien die Ausstellung "Wilhelm Reich: Sex! Pol! Energy!".
...
Staatliche Repression
 
Bild: Wilhelm Reich Gesellschaft

Reichs Erforschung der Orgontherapie stieß in wissenschaftlichen Kreisen auf große Skepsis. Noch weiter gingen die amerikanischen Behörden: sie verhängten ein gerichtliches Verbot der Orgon-Akkumulatoren.

Reich ignorierte diesen Beschluss und arbeitete weiter an seinen Forschungen. Wegen Missachtung des Gerichts erhielt er eine zweijährige Haftstrafe (sein Häftlingsausweis: siehe Bild oben).

Seine Werke - als "Werbeschriften für den Orgon-Akkumulator" verstanden - wurden unter behördlicher Aufsicht verbrannt. Am 3. November 1957 starb er im Gefängnis der amerikanischen Stadt Lewisburg.
Kritik: Kein Sex ohne Repression
Bild: Wilhelm Reich Gesellschaft
Grabstätte in Orgonon, Maine
(Bild: Wilhelm Reich Gesellschaft)
Die Überzeugung, dass die "orgiastische Potenz" das Lösungsmittel für neurotische Konflikte sei, wurde (wird) von einem Großteil der zeitgenössischen Psychoanalytiker nicht geteilt. Seine Orgon-Theorie wurde häufig als Pseudowissenschaft bezeichnet.

Ein "harter Kern" von Reichs Anhängern ist hingegen weiter von der Tragfähigkeit dieser Theorie überzeugt. Die Begeisterung der Protagonisten von Mai 1968 (Fritz Teufel, Otto Mühl) wurde von dem französischen Philosophen Michel Foucault korrigiert: Der Glaube an eine repressionsfreie Sexualität sei eine Illusion.

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 2.11.07
...
Literatur-Hinweise
Die Funktion des Orgasmus. Kiepenheuer und Witsch
Massenpsychologie des Faschismus. Kiepenheuer und Witsch
Rede an den kleinen Mann, Fischer
Die sexuelle Revolution, Fischer
Karl Fallend/Bernd Nitzschke: Der "Fall" Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik, Psychosozialverlag, Giessen 2002 (darin auch ein Beitrag von Helmut Dahmer)
Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus", stw 224
...
->   Wilhelm-Reich-Institut Wien
->   Wilhelm-Reich-Gesellschaft Deutschland
->   Wilhelm-Reich-Museum
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010