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Mathematik: Braindrain in Reinkultur  
  Es liegt bei weitem nicht nur an der Infrastruktur und am Gehalt, dass österreichische Forscher ihr Berufsglück außerhalb der Landesgrenzen suchen. Viel eher sind es mangelnde Karrierechancen, zu wenig Leistungsorientierung und eine gewisse "Schrebergartenmentalität", die sie emigrieren lassen.  
Dies ist der Schluss einer Dissertation von Andreas Breinbauer, Wissenschaftsforscher und Vizerektor der Fachhochschule des BFI Wien, die sich der "Mobilität österreichischer und ungarischer Mathematiker" gewidmet hat.

Die Idee hinter seiner Studie war es, den Braindrain einmal in "Reinkultur" zu analysieren. Ideal dafür ist die Mathematik: Sie braucht in der Regel keine teure Infrastruktur wie Laboreinrichtungen etc., sondern ist immer noch vor allem "Papier- und Bleistiftdisziplin".

Deshalb könne bei ihr auf die "reinen Ursachen" geschlossen werden, die hinter den Gründen der Abwanderung ins Ausland stehen.
79 Österreicher und 124 Ungarn ermittelt
In dreijähriger Forschungsarbeit hat Breinbauer einen Großteil aller Mathematiker identifiziert, die in Österreich oder Ungarn geboren sind, die dort auch ihre Ausbildung genossen haben und danach - bis zum Stichtag Dezember 2006 - mehr als drei Jahre ununterbrochen im Ausland tätig waren.

Und zwar ausschließlich im F&E-nahen Bereich, also an Hochschulen oder in Unternehmen, wobei sie auch dabei immer einen Konnex zur Uni haben mussten, z.B. als Lektoren.

Mit Hilfe internationaler Datenbanken, einer weltweiten Recherche in Personenverzeichnissen von Mathematikinstituten und -vereinigungen sowie Hinweisen von In- und Auslandsmathematikern ermittelte Breinbauer insgesamt 79 österreichische und 124 ungarische Forscher, die auf seine Auswahlkriterien passten. Ein Großteil von ihnen wurden per Fragebogen und Telefoninterviews befragt.
Unterschiedliche Zielländer
Schon bei den Zielländern zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen Österreichern und Ungarn. Rund die Hälfte der heimischen Mathematiker arbeitete im "erweiterten Arbeitsmarkt" Deutschland, danach folgen die USA, Schweiz und Australien, was in etwa auch den Verhältnissen bei anderen Akademikern entspricht. Die zwei "Hotspots" der Auslandsösterreicher sind Berlin und München.

In Ungarn hingegen sind die angelsächsischen Länder USA, Kanada und Großbritannien mit Abstand die wichtigsten Ziele der Mathematikergilde, London und New York die wichtigsten Städte.
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Zahlen, Daten, Fakten
Zur Jahrtausendwende befanden sich rund 102.000 österreichische Akademiker im Ausland, mehr als die Hälfte von ihnen in Deutschland und den USA. Bei den Ungarn waren es 91.000, wobei Nordamerika mit der Hälfte Zielkontinent Nummer Eins war. Insgesamt gibt es 1.800 graduierte Mathematiker in Österreich, die im F&E-Bereich arbeiten. Laut Breinbauer sind in Österreich rund 70 Mathematikprofessoren an den Unis beschäftigt, im Ausland rund 40 mit heimischer Provenienz.
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Nicht nur eine Frage der Sprache
Die Wahl der Zielländer lässt sich nicht nur mit den sprachlichen Gegebenheiten argumentieren. Bereits während des Realsozialismus habe es in Ungarn einen viel höheren Vernetzungsgrad der ungarischen Mathematik mit den USA gegeben, erklärt Breinbauer.

Mathematik sei damals bei unseren Nachbarn so etwas wie eine "ideologiefreie Zone gewesen, die die besten Leute angezogen hat". Die internationalen Kooperationen - etwa Ko-Autorenschaften - hätten sich schon damals deutlich nach Nordamerika orientiert - im Gegensatz zu Österreich, wo die wissenschaftlichen Kontakte bis heute vor allem mit europäischen Ländern, insbesondere Deutschland bestehen.
Österreicher gehen "für immer"
"Heute ist Deutschland und Österreich bei der geförderten Mobilität bei den Ungarn zwar wichtig, sie bleiben aber dort nicht, sondern gehen weiter nach Nordamerika", so Breinbauer. Was zu Zeiten des realen Sozialismus eine Frage erzwungener Migration war, geschieht heute freiwillig.

Bei der Frage nach der Rückkehrmöglichkeit zeigen sich die Österreicher weit illusionsloser. Sie glauben signifikant öfter, "für immer" im Ausland zu bleiben, als die Ungarn.
Ungarn halten mehr Kontakt
Breinbauer hat auch den Grad der internen Vernetzung der Auslandsmathematiker untersucht. Dabei zeigte sich, dass die Ungarn weit mehr Kontakt halten sowohl zu Landsleuten im Ausland als auch zu ihren Heimatinstitutionen.

Durch Sabbaticals, Summer Schools und Gastvorträge etc. seien sie viel stärker mit ihrer Heimat verbunden. Eine wichtige Drehscheibe dabei spielt die Ungarische Akademie der Wissenschaften, die historisch über mehr Einfluss verfügt als ihr österreichisches Pendant, wie Breinbauer betont.
Österreicher beklagen "Schrebergartenmentalität"
Auch bei den Motiven, ins Ausland abzuwandern, unterscheiden sich die beiden Länder deutlich. Während die Ungarn "höhere Gehälter" als Hauptgrund angeben, sind es bei den Österreichern die institutionellen Rahmenbedingungen: Sie wünschen sich mehr Internationalisierung, weniger Hausberufungen und "Schrebergartenmentalität" sowie mehr Beurteilung nach dem Leistungsprinzip.
Migration als Karrierekiller
Immer noch scheint es so zu sein, dass der Gang ins Ausland in Österreich nicht gerade karrierefördernd wirkt. Schon in den 70er Jahren, als die ersten "Braindrain-Studien" gemacht wurden, nannten die Auslandsösterreicher u.a. das hiesige System mit Bürokratie und Hierarchie als wichtigen Grund für ihren Weggang.

Obwohl es mittlerweile als Ausdruck des Veränderungswillens eine Reihe von Programmen zur Förderung der Mobilität gibt, ist die Einschätzung der Betroffenen mehr oder minder die gleiche geblieben, so Breinbauer.

Die Empfehlung des Wissenschaftsforschers nach seiner Studie: Junge Forscher sollten noch mehr Möglichkeiten bekommen, ins Ausland zu gehen, der Kontakt mit den Heimatinstitutionen sollte nicht abreißen und etwa durch Gastsemester in Österreich die Beziehung zum wissenschaftlichen Nachwuchs verbessert werden.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 19.11.07
->   Andreas Breinbauer, FH des BFI Wien
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01.01.2010