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Eine Überdosis Unendlichkeit  
  Am 6. Jänner jährt sich der Todestag des deutschen Mathematikers Georg Cantor zum 90. Mal. Der Begründer der Mengenlehre hat als erster die Welt des Unendlichen systematisch erforscht - was unter Fachleuten bis heute für hitzige Diskussionen sorgt: Existieren Cantors Unendlichkeiten wirklich oder sind sie nur Abstraktionen ohne Bezug zu dieser Welt?  
Genial und depressiv
Stenogramm eines depressiven Höhenfliegers: Georg Cantor, geboren 1845 in St. Petersburg. Sohn eines reichen dänischen Kauffmanns. Mit elf Jahren in Frankfurt ansässig, mathematisch hochbegabt. Studium der Philosophie, Physik und Mathematik in Zürich, Göttingen und Berlin. Professor für Mathematik an der relativ unbedeutenden Universität in Halle. Fürchtet zeitlebens um die Anerkennung seines Werkes.

Mit Vierzig der erste Anfall. Diagnose: manisch-depressive Psychose. Mit Sechzig Entbindung von allen Lehrverpflichtungen. Stirbt im Alter von 73 Jahren, Todesursache: Herzversagen.

In den letzten Lebensjahren beschäftigt sich Cantor mit den Rosenkreuzern, Theosophien und Freimaurern. Der Mathematiker versucht zu beweisen, dass Shakespeares Stücke in Wahrheit von Francis Bacon geschrieben worden sind. Dunkel deutet Cantor an, gewisse Entdeckungen über den König von England gemacht zu haben, die die englische Regierung in Schrecken versetzen werden.

Doch all dies geschieht, nachdem Georg Cantor die Mengenlehre entwickelt hat. Nach einem intellektuellen Aufschwung in das abstrakte Reich der Zahlen, in dem es durch Cantor plötzlich mehr als eine Unendlichkeit gibt. Formallogisch beweisbar, aber unvorstellbar und selbst für viele Mathematikerkollegen philosophisch zermürbend - bis heute. Kein Wunder also, dass Cantors Absturz in eine manische Depression für die meisten Biografen vorprogrammiert scheint.
Unendlichkeit als Idee
Schon die Griechen machen mit dem Unendlichen in der Mathematik Bekanntschaft. Allerdings geht man damit bis zum Auftritt Georg Cantors im 19. Jahrhundert anders um.

Die Unendlichkeit ist nur als Idee zugelassen, nicht als etwas, das tatsächlich in der Welt existiert. Euklid beweist, dass die Menge der Primzahlen unendlich ist, aber erst Cantor behandelt sie mathematisch so, als würden alle ihre Elemente vollständig in der Welt vorliegen. Wie in einer real existierenden Kartei. Und genau darüber lässt sich bis heute trefflich streiten.

Das philosophische Problem ist folgendes: Das beobachtbare Universum ist ungefähr 14 Milliarden Lichtjahre groß. Damit behaupten die Kosmologen heute auch nicht anderes als die alten Griechen: Unsere Welt ist endlich. Alles, was sie enthält, ließe sich im Prinzip abzählen, wenn man genügend Zeit dazu hätte: Galaxien, Sterne, Atome. Das Dilemma ist allerdings, dass man nach dem letzten Atom einfach weiter zählen - ewig weiterzählen könnte.

Denn die Menge der natürlichen Zahlen ist nicht nur unvorstellbar groß, so wie die Menge der Atome im Weltall, sondern sie ist unendlich. Zahlen sind mathematische Abstraktionen, die der menschliche Geist hervorbringt. Wenn man sie zur Welt zählt, wogegen nichts zu sprechen scheint, gibt es in dieser als doch eine Unendlichkeit. 1,2,3,4,5 ....usw.
Ein Turm aus Unendlichkeiten
Die Streitfrage ist nun, wie die Unendlichkeit, dieses "usw." zu verstehen und zu behandeln ist? Wieder einmal gibt Aristoteles die philosophischen Antithesen aus, indem er das "potenziell Unendliche" vom "aktual Unendlichen" unterscheidet. Auch in der Mathematik, so der Philosoph, existiere das Unendliche nur als Gedanke, als Idee, als Möglichkeit, eben nur potenziell.

Zweifellos hat niemand, auch nicht Cantor später, jemals alle unendlich vielen natürlichen Zahlen aufgezählt. Das ist unmöglich, weshalb es die Unendlichkeit nicht "aktual", also wirklich geben kann. Cantors Mengenlehre setzt aber gerade diesen "aktualen" Begriff des Unendlichen voraus.

Und der Mathematiker setzt noch eins drauf: gibt es vor Cantor nur eine Unendlichkeit im abstrakten Reich der Zahlen, existieren in seiner Mengenlehre plötzlich mehrere Unendlichkeiten, die verschieden groß sind. Cantor baut mit seiner Mengenlehre einen hierarchischen Turm aus Unendlichkeiten. Auf jeder Stufe, die er im Treppenhaus seines Turms hochsteigt, werden die Unendlichkeiten größer oder mächtiger, wie die Mathematiker sagen.

In jedem Stockwerk wird allerdings auch die Zahl der Cantor-Anhänger kleiner. Zu ihnen gehören Karl Weierstraß, Richard Dedekind, David Hilbert und später Bertrand Russell. Auf der massierten Gegenseite stehen - mit Rückendeckung durch Aristoteles und Gauß - Cantors ehemaliger Lehrer Leopold Kronecker, Henri Poincaré, Luitzen Egbertus Brouwer und später Hermann Weyl.
"Widerspruchsfrei, aber nicht evident"
In seiner Mengenlehre stellt Cantor Axiome auf, mit denen die Unendlichkeit gewissermaßen "dingest" gemacht wird. Es ist ein Zeichensystem aus Sätzen, Beweisen und Schlussfolgerungen, das neue Erkenntnisse über die Unendlichkeit zulässt. Formallogisch widerspruchsfrei, behaupten die Cantor-Proselyten, aber nicht evident, kontern die Cantor-Kritiker, also jenseits des menschlichen Vorstellungsvermögens. Nur beim niemals abschließbaren Abzählen der natürlichen Zahlen sei die Unendlichkeit erfahrbar.

Das wichtigste Symbol in der Mengenlehre ist "Aleph", der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets. Mit der transfiniten Kardinalzahl "Aleph Null" bezeichnet Georg Cantor sozusagen die kleinste Unendlichkeit der natürlichen Zahlen. Sie umfasst unendliche Mengen, deren Elemente im Prinzip abzählbar sind.

Cantor kann formal und widerspruchsfrei beweisen, dass es gleich viele natürliche Zahlen wie Primzahlen oder rationale Bruchzahlen wie 1/2 oder 3/4 usw. geben muss - nämlich abzählbar unendlich viele.
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Das Potenzmengenaxiom
Anschließend zeigt Cantor mit seinem Potenzmengenaxiom, dass die Menge aller möglichen Teilmengen einer Menge immer mehr Elemente hat als die ursprüngliche Menge, auch wenn diese bereits unendlich ist. Die Potenzmenge der natürlichen Zahlen hat also eine höhere Mächtigkeit als die Menge der natürlichen Zahlen. Ihre transfinite Kardinalzahl bezeichnet Cantor mit "Aleph 1". Da er von jeder Potenzmenge wiederum eine weitere Potenzmenge bilden kann, gleicht das einem Dammbruch. Immer lässt sich eine noch mächtigere Unendlichkeit finden oder eine noch größere transfinite Kardinalzahl anschreiben: "Aleph 2", "Aleph 3", "Aleph 4" usw.
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Bis zum Punkt Omega
Ein unlösbares Problem macht Cantor allerdings bis zu seinem Lebensende zu schaffen. Der Mathematiker stellt sich die Frage, ob es eine Unendlichkeit zwischen der unendlichen Menge der natürlichen Zahlen und jener der reellen Zahlen gibt? Er vermutet nein, kann diese so genannte Kontinuumshypothese aber letztlich nicht beweisen. Cantor hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Der tritt etwas später in Gestalt des österreichischen Logikers Kurt Gödel auf. Mit seinem berühmten Unvollständigkeitssatz beweist Gödel 1931, dass es in der Mathematik immer Aussagen gibt, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen. Und Cantors Kontinuumshypothese ist eine solche Aussage!

In der Zwischenzeit haben die Nachfahren einen regelrechten transfiniten Zahlenzoo entwickelt, der Cantors Mengenlehre pulverisiert. Da gibt es "unerreichbare Kardinalzahlen", ¿unnennbare Kardinalzahlen¿, ¿superkompakte Zahlen¿ und das "absolut Unendliche¿, ausgedrückt durch den letzten Buchstaben des griechischen Alphabets: Omega, die größte vorstellbare Unendlichkeit in der Mathematik.

Für viele Mathematiker ist das lediglich das Sahnehäubchen auf einem formalistischen Zahlenfuror, der jeglicher Evidenz entbehrt. Anders gesagt: Die ¿Unendlichkeits-Junkies¿ der modernen Mengenlehre haben Cantors Überdosis noch einmal erhöht.

Armin Stadler, Ö1-Wissenschaft, 4.1.08
->   Unendlichkeit - Wikipedia
->   Georg Cantor - Wikipedia
 
 
 
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01.01.2010