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Dollfuß für 40 Prozent "unbekannt"  
  Im Jahr der Zeitgeschichte 2008 wird die Vorgeschichte des Aufstiegs der Nazis in Österreich oft übersehen: 1933 begann der christlichsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, sein autoritäres Regime zu installieren. Während sich die Historiker über seine Rolle als Anti-Demokrat mehr oder weniger einig sind, ist das in der Bevölkerung nicht unbedingt so.  
40 Prozent können mit seinen Namen nichts mehr anfangen, ein Viertel gab in einer Meinungsumfrage an, Dollfuß zu "bewundern". Knapp 20 Prozent finden nicht, dass er die Demokratie zerstört hat, schreibt der Historiker Oliver Rathkolb anlässlich einer Konferenz in Wien in einem Gastbeitrag.
1933: Ein (noch) geteilter Erinnerungsort, der im Dunkeln der Geschichte verschwindet
Von Oliver Rathkolb

Nur wenige Experten und Expertinnen haben die Jahrestagsserie 2008 zum Anlass genommen, um sich mit einem der zentralen Schlüsseljahre der Ersten Republik, das auch die politischen Eliten der Zweiten Republik noch beschäftigt hat, auseinanderzusetzen.

Am 4. März 1933 ging der Nationalrat als Folge einer Geschäftsordnungskrise - die drei Präsidenten des Nationalrates waren, um bei einer umstrittenen Abstimmung über einen Eisenbahnerstreik ihre Stimme abgeben zu können, zurückgetreten - verhandlungsunfähig auseinander.

Der christlichsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, der seit 1932 nur mit einer Stimme mehr regierte, missbrauchte diese Situation, um unter Verfassungsbruch eine Wiedereinberufung des Nationalrates zu verhindern.
Mythos der "Selbstausschaltung" zu Ende
Der daraufhin bewusst implantierte Mythos über die "Selbstausschaltung des Parlaments" geisterte noch in den 1970er und 1980er Jahren in den Köpfen der Menschen herum und fand sich auch in den Schulbüchern wieder.

Heute gibt es sowohl in der historischen Wissenschaft, als auch unter den Schulbuchautorinnen und -autoren der wichtigsten Mittelschullehrbücher keine Auffassungsunterschiede mehr:

Dollfuß, große Teile der christlichensozialen Spitzenfunktionäre und diverse Kanzlerberater haben bewusst das noch immer für Notsituationen in Kraft befindliche Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz vom 24. Juni 1917 wieder herausgeholt, um scheinbar verfassungskonform weiterzuregieren.

2003 hat der damalige ÖVP-Parlamentspräsident Andreas Khol auch diese Einschätzung als Jurist und Spitzenpolitiker in einem Interview mit Dieter Kindermann in der "Kronen Zeitung" unterstützt und ohne Wenn und Aber über 1933 geurteilt: "Ein Staatstreich, ein autoritäres Regime, das sich auf eine juristische Notlüge gestützt hat."
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Konferenz in Wien
Am 3. März 2008 findet die Konferenz "Von autoritären Gesellschaften zur Demokratie. Demokratie und Diktatur im Widerstreit seit 1918" statt.
Veranstalter: Demokratiezentrum Wien
Ort: Wien Museum Karlsplatz, 1040 Wien
->   Mehr über die Konferenz
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Kalter Staatsstreich
In weiterer Folge nützte auch der damalige Bundespräsident Wilhelm Miklas, ein Christlichsozialer, trotz Bedenken gegen diesen kalten Staatsstreich seine legitimen Rechte nicht aus (er hätte Dollfuß entlassen können).

Der Versuch einer Wiedereinberufung des Nationalrates am 15. März 1933 durch sozialdemokratische und großdeutsche Abgeordnete wurde mit Polizeigewalt verhindert.

In weiterer Folge legte das nunmehrige Dollfuß-Regime gleich auch durch Abberufung der christlichsozialen Mitglieder den Verfassungsgerichtshof lahm, um einer Verfassungsgerichtshofbeschwerde der Abgeordneten zu entgehen.
Konnte Nazis nicht verhindern - im Gegenteil
Rückblickend betrachtet ist klar, dass mit der Zerschlagung der Demokratie und der Etablierung einer "Regierungsdiktatur" (so die Begriffsdefinition durch den Historiker Helmuth Wohnout 1993) weder die innenpolitische Gewaltspirale, die im Bürgerkrieg vom Februar 1934, im gescheiterten Naziputsch und der Ermordung von Dollfuß im Juli 1934 ihre tragischen Höhepunkte fand, unterbunden wurde noch der "Anschluss" an Hitler-Deutschland 1938 verhindert werden konnte.

Der Wiener Ordinarius am Institut für Zeitgeschichte, Gerhard Botz, hat jüngst festgestellt: "Das autoritäre, stark obrigkeitsstaatlich geprägte Regime Dollfuß' und Schuschniggs, zunächst stark antinazistisch vorgehend, verlor nach der Niederwerfung der Sozialdemokratie und dem beginnenden Rückzug der protegierenden Hand Mussolinis rasch seine Widerstandskraft gegen den stärker werdenden Nationalsozialismus von außen und im Inneren.

Zugleich öffnete es durch die Etablierung autoritärer Strukturen den in den Staatsapparat zunehmend eingelassenen (halbillegalen) Nazis eine weitere Möglichkeit zur (schein)legalen Machtübernahme im März 1938."
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Ein Kreisky-Zitat
Bruno Kreisky formulierte das als Bundeskanzler 1973 etwas weniger wissenschaftlich, aber mit derselben Quintessenz in dem Satz, "... dass die sogenannte 'Dollfuß-Straße', auf die man Österreich gezwungen hatte, schnurgerade in die nazistische Diktatur und damit in den Abgrund des Krieges führen wird".
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Person Dollfuß nach wie vor umstritten
Aber die wichtige Frage für die Auseinandersetzung mit der Demokratie in der Gegenwart ist letztlich jene nach den Geschichtsbildern, die das kommunikative Gedächtnis der Einzelnen und kollektive Narrative im kommunikativen Gedächtnis momentan prägen:

Die Einschätzung der persönlichen Motivation von Dollfuß ist - zum Unterschied von der immer deutlicher werdenden Erosion des "Selbstausschaltungsmythos" - nach wie vor umstritten: "Arbeitermörder" - so zum Beispiel Hannes Androsch, ehemaliger Vizekanzler, im Jahre 2008; "Märtyrer und österreichischer Patriot", Andreas Khol 2001 im Verfassungsausschuss des Nationalrates oder "umstrittenste Persönlichkeit in der österreichischen Geschichte im 20. Jahrhundert" (Peter Huemer, Journalist und Historiker, 2008).
Ein Viertel "bewundert" Dollfuß heute
Wie sieht es aber im kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaft aus? Im Dezember 2007 haben wir - eine Gruppe von ZeithistorikerInnen und SozialwissenschaftlerInnen - im Rahmen eines Forschungsprojekts des Ludwig Boltzmann Instituts für Europäische Geschichte die Frage nach der heutigen Einschätzung der Kanzlerfigur Engelbert Dollfuß gestellt.

Auf die Aussage "Bundeskanzler Dollfuß verdient große Bewunderung" antworteten 24,6 Prozent mit Ja (15,1 Prozent stimmten voll zu, 9,5 Prozent stimmten zu), 40,3 Prozent gaben in einer noch unveröffentlichten Meinungsumfrage keine Antwort, 36,6 Prozent lehnten diese Feststellung ab.

Hinsichtlich der Nachfrage, ob Bundeskanzler Dollfuß die Demokratie zerstört habe, antworteten 19,1 Prozent mit Ja und 19,6 Prozent mit Nein, 47,7 Prozent machten keine Angaben.
Ein erschütterndes Ergebnis
Dieses Ergebnis ist aus demokratiepolitischer Sicht erschütternd - zwischen 40 und fast 48 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher können die autoritäre Periode vor dem Nationalsozialismus nicht einmal mehr als Faktum einordnen.

Hinsichtlich der historischen Grundeinschätzung der Figur Dollfuß ist die Öffentlichkeit fast ebenso unwissend, und jene, die sich ein Urteil zutrauen, reproduzieren das gespaltene Geschichtsbild der beiden großen Parteien ÖVP und SPÖ, mit einem hauchdünnen Vorsprung für das Märtyrer-Image.
Politische Fehleinschätzungen
Noch unklarer ist das Bild über den Diktaturcharakter der Jahre 1933 - 1938, der eigentlich politisch inzwischen längst außer Streit steht, und obwohl auch klar ist, dass eine Diktatur, die nationalsozialistische, nicht durch eine andere, schwächere Diktatur verhindert werden konnte.

Dass 1938 der repressive Apparat des Schuschnigg-Regimes direkt in die Hände der Geheimen Staatspolizei der Nazis fiel und das österreichische Bundesheer sofort auf Adolf Hitler vereidigt wurde, sind nur zwei von vielen Faktoren, die diese politische Fehleinschätzungen unterstreichen.

Mit der Zerschlagung der Demokratie 1933 und dem nachfolgenden Bürgerkrieg wurde die theoretische Chance auf eine gemeinsame "großkoalitionäre" Abwehr des "Anschlusses" an Deutschland verpasst, obwohl sie 1932 noch durch die Wähler legitimiert war.
Politische Bildung muss sich damit beschäftigen
Gerade die Erinnerung an den "Anschluss" an Hitler-Deutschland 1938 und dessen Folgen, die im Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust endeten, sollte die Zeit vor 1938 nicht ausblenden, sondern zu einer intensiveren Auseinandersetzung führen, um die inzwischen bedrohlichen historischen Wissensleerstellen zu schließen und auch das gespaltene Geschichtsbild zu homogenisieren.

Vor dem Hintergrund der Renaissance der politischen Bildung im Zuge der Demokratieinitiative der Bundesregierung muss Platz und Zeit für eine kritische Auseinandersetzung mit den autoritären politischen Akteuren und deren Rahmenbedingungen der Jahre 1933 - 1938 sein.

Nur wer autoritäre Entwicklungen rechtzeitig erkennt, wird den Gefahren der Gegenwart und Zukunft auch mit demokratisch legitimierten Mitteln entgegentreten.

[29.2.08]
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Über den Autor
Oliver Rathkolb ist ab 1. März Professor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Vorstandsmitglied des Demokratiezentrums Wien und interimistischer Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit.
->   LBI für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit
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01.01.2010