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Kontrollverlust lässt Verschwörungstheorien gedeihen  
  Suggeriert man Menschen, die Kontrolle über eine Situation verloren zu haben, suchen sie auch im scheinbaren Chaos nach Halt. Das führt nicht nur dazu, dass in wirren Mustern Bilder erkannt werden, die gar nicht vorhanden sind, sondern auch zu vermehrt abergläubischen und verschwörungstheoretisch unterfütterten Interpretationen.  
Die Wirtschaftswissenschaftler Jennifer Whitson und Adam Galinsky haben anhand von sechs Experimenten überprüft, inwieweit das starke Bedürfnis des Menschen nach Kontrolle seine Wahrnehmung verfremdet.

Die Ergebnisse zeigen: Offenbar gibt es kaum etwas Schlimmeres, als einer verwirrenden Situation ausgeliefert zu sein. Das Gefühl von Sicherheit muss erzeugt werden - auch um den Preis von Sinnestäuschungen.
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Die Studie "Lacking Control Increases Illusory Pattern Perception" ist am 3. Oktober 2008 in "Science" erschienen (Band 322, S. 115-117, DOI:10.1126/science.1159845).
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Wahlkampfrezept individuell überprüft
Es klingt wie das Rezept für einen erfolgreichen Wahlkampf: zuerst viel Verwirrung stiften, drohendes Unheil beschreiben und den Menschen das Gefühl geben, dass sie dem Bevorstehenden hilflos ausgeliefert sind; und dann scheinbare Ordnung im Chaos anbieten, indem einfache Zusammenhänge suggeriert und Lösungen angeboten werden.

Dass diese Anleitung nicht nur in der Politik zu manch freudigem Gesicht am Wahlabend geführt hat, sondern auch auf der ganz individuellen Ebene funktioniert, haben nun Jennifer Whitson von der Universität Texas in Austin und Adam Galinsky von der Northwestern University in Evanston nachgewiesen.
Situation beeinflusst Wahrnehmung
Prinzipiell sei schon lange bekannt gewesen, dass die individuelle Situation die Wahrnehmung massiv beeinflusst. So nehmen Kinder aus armen Familien Geldmünzen größer wahr als besser gestellte Gleichaltrige. Und hungrige Menschen sehen Essen auch in verschwommenen Bildern.

Whitson und Galinsky wandten sich einem allgemeineren Phänomen zu und wollten die Frage klären, ob das Gefühl von Kontrollverlust die Tendenz verstärkt, in chaotischen Situationen "Muster" wahrzunehmen.
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Sechs Experimente
Dazu führten sie sechs Experimente durch, bei denen sowohl visuelle als auch inhaltliche Täuschungen auf der Suche nach Ordnung untersucht wurden. Beispielsweise zeigten sie den Versuchspersonen Bilder, deren eine Hälfte aus zufällig angeordneten Punkten bestand, in der anderen Hälfte aber ein konkretes Sujet wie ein Boot oder ein Sessel hinter den Punkten erkennbar war.
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Bilder, wo keine sind
95 Prozent erkannten die versteckten Objekte - soweit, so wenig überraschend. Wenn die Forscher aber nur ungeordnete Punkte zeigten, erkannten die Menschen, denen zuvor kein Kontrollverlust suggeriert wurde, dass nur Chaos zu sehen war. 43 Prozent der Verunsicherten hingegen glaubten, Bilder in der Punkte-Wüste zu erkennen.
Aberglaube und Verschwörungstheorien ...
Auch die Neigung zu Aberglauben nahm stark zu, wenn die Versuchspersonen von einem Gefühl von Kontrollverlust geleitet wurden. Dazu musste eine Hälfte sich an eine Situation erinnern, in der ihnen eine Situation entglitten war, etwa bei einem Verkehrsunfall oder einer Erkrankung in der Familie.

Danach lasen die verunsicherten und die selbstsicheren Menschen eine Kurzgeschichte, in der etwa von einer erfolgreichen Besprechung in der Arbeit erzählt wurde. Vor dem Meeting wurde ein scheinbar nicht zusammenhängendes Detail erwähnt, etwa dass der erfolgreiche Teilnehmer dreimal mit dem Fuß aufgestampft habe.
... sorgen für Ordnung im Chaos
Die verunsicherten Versuchspersonen stellten zwischen diesem Detail und dem Erfolg der Besprechung sofort einen abergläubischen Zusammenhang her: "Dreimal aufstampfen bedeutet erfolgreiches Meeting."

In eine Geschichte von einem Mitarbeiter, der nicht befördert wurde, interpretierten sie Verschwörungen verschiedenster Art, etwa, dass der Chef wohl mit dem Beförderten essen war.
Auch "Umpolung" möglich
Nun könnte man auch annehmen, dass es sich bei den eher zu Aberglauben und Verschwörung neigenden Personen generell um eher ängstliche bzw. verunsicherte Menschen handelt, die unabhängig vom Kontext ordnende Strukturen suchen.

Um das auszuschließen, baten Whitson und Galinsky diese Gruppe, sich an Situationen zu erinnern, in denen sie den Ablauf bestimmen konnten. Das Ergebnis: Ihre Testergebnisse unterschieden sich nicht mehr von jenen der Versuchspersonen, die vom Gefühl des Kontrollverlusts unbeeinflusst geblieben waren.
"Mentale Gymnastik"
"Die Kontrolle zu verlieren, ist offenbar so furchterregend, dass mit Hilfe von 'mentaler Gymnastik' alles unternommen wird, um wieder Ordnung herzustellen", interpretiert Adam Galinsky die Studie.

Sich dessen bewusst zu sein, könnte dabei helfen, möglichen Manipulationen weniger hilflos ausgeliefert zu sein - im nächsten Wahlkampf etwa.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 3.10.08
->   Jennifer Whitson
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01.01.2010