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Religion lässt uns die Welt anders sehen  
  Dass religiöse Menschen die Welt im übertragenen Sinn anders sehen als Ungläubige, ist bekannt. Dass sich Religion allerdings ganz konkret auf die visuelle Wahrnehmung des Einzelnen auswirkt, klingt doch erstaunlich. Genau das zeigt nämlich ein aktuelles Experiment niederländischer Psychologen.  
Dabei erkannten die kalvinistischen Versuchspersonen kleine, eingebettete Formen deutlich schneller als die atheistische Vergleichsgruppe.
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Die Studie "Losing the Big Picture: How Religion May Control Visual Attention" von Lorenza S. Colzato et al. ist in "PLoS ONE" (12. November 2008; DOI: 10.371/journal.pone.003679.t001) erschienen.
->   Studie
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Aktive Wahrnehmung
Die Wahrnehmung der Welt ist ein aktiver Prozess. Das heißt, alles was wir sehen oder wie wir es sehen wird in gewisser Weise von uns, unseren Haltungen und Meinungen gesteuert. Manchem schenken wir mehr Aufmerksamkeit, anderem weniger. So sieht das zumindest die psychologische Forschung der letzten Jahrzehnte.

Dass sich vor allem auch unser kultureller Hintergrund auf die Sicht der Dinge auswirken kann, konnte bereits in einigen Experimenten gezeigt werden. Studien in diesem Zusammenhang verglichen z.B. die Wahrnehmung von westlichen und asiatischen Menschen, wobei sich herausstellte, dass Asiaten viel ganzheitlicher wahrnehmen, wohingegen Westler eher das Detail sehen.
Wie schnell werden Objekte erkannt?
Der religiöse Einfluss wurde laut Bernhard Hommel, dem wissenschaftlichen Leiter der aktuellen Studie, noch nie untersucht. Am Experiment nahmen insgesamt 40 Personen teil, die Hälfte davon war kalvinistisch, die andere ungläubig; bei Herkunft, Alter, Geschlecht, Intelligenz, sozialem sowie kulturellem Hintergrund gab es kein messbaren Unterschiede.

Die Aufgabe für die Probanden bestand nun darin, verschiedene Objekte zu erkennen - Dreiecke und Rechtecke, in welche wiederum Dreiecke und Rechtecke eingeschrieben waren. Die Teilnehmer sollten entweder auf die großen oder kleinen Umrisse fokussieren und anzeigen, um welche Form es sich handelt.
Gläubige erkennen kleine Formen schneller
Beide Gruppen reagierten rascher auf die großen Objekte, die Kalvinisten etwas weniger schnell als die Atheisten. Beim Erkennen der kleinen Rechtecke und Dreiecke waren die Kalvinisten allerdings eindeutig schneller, im Durchschnitt 30 Millisekunden - ein kleiner, aber doch signifikanter Unterschied.

Für die Studienautoren ein eindeutiger Hinweis, dass religiöse Überzeugungen allein dazu im Stande sind, die menschliche Wahrnehmung zu überformen.
Spiegel religiöser Ideale
Die Wissenschaftler haben auch eine Erklärung, warum die Gläubigen in dieser Untersuchung die Dinge so sehen. Ein Ideal des niederländischen Neokalvinismus sei nämlich die Unabhängigkeit und Abgeschlossenheit gesellschaftlicher Untergruppen oder in anderen Worten: Jeder kümmert sich um seine eigenen Sachen.

Das heißt laut den Forschern, dass die niederländischen Kalvinisten eher zur Wahrnehmung eines unabhängigen Selbst erzogen wurden, was wiederum zu einer mehr auf das lokale Detail gerichteten Aufmerksamkeit führen könnte.
Wahrnehmungsmuster als Grundlage der Weltsicht
Im echten Leben sind Dinge oder Fakten naturgemäß komplexer als Dreiecke oder Rechtecke. Die Wahrnehmung und Interpretation aber immer abhängig vom Betrachter.

Forschungsergebnisse wie dieses deuten darauf hin, dass unterschiedliche religiöse Hintergründe zu verschiedenen Interpretationen der Welt führen können, ausgehend von simplen Wahrnehmungsdifferenzen. Das ist nach Ansicht der Wissenschaftler rund um Hommel überraschend und auch etwas beunruhigend.

Eva Obermüller, science.ORF.at, 19.11.08
->   Bernhard Hommel
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   Die Kultur prägt den Blick (29.8.08)
->   Wie die Fantasie unsere Wahrnehmung prägt (4.7.08)
->   Aufmerksamkeit schärft die Sinne (14.8.06)
 
 
 
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01.01.2010