News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Ich und die Menge  
  Um über das ambivalente Verhältnis des Einzelnen zur Menge nachzudenken, war das Wien des frühen 20. Jahrhunderts ein idealer Platz. Vom Populismus Karl Luegers bis zum Justizpalastbrand 1927 bot die Stadt Elias Canetti, Sigmund Freud und anderen jede Menge Anlässe zur Reflexion. Der Literaturwissenschaftler Michael Gamper von der ETH Zürich geht in einem Gastbeitrag der Beschäftigung Robert Musils mit dem Phänomen nach.  
Massenpsychologie und Massenpolitik im Wien der Zwischenkriegszeit
von Michael Gamper, Zürich

Die Menschenmasse ist ein zutiefst irritierendes und verstörendes Phänomen. Robert Musil beschreibt in Kapitel 120 des Ersten Buches von "Der Mann ohne Eigenschaften" den beängstigenden Vorgang, wie aus den zahlreichen Einzelnen eine Masse wird, die unhintergehbar neue, das involvierte und das beobachtende Individuum verängstigende soziale Qualitäten annimmt.
...
Zitat Musil
"[M]an hörte etwas, das man nicht verstand, verstümmelte Botschaften und Wellen stummer Erregung liefen von vorne nach hinten, und die Leute empfanden, je nach ihrer Natur und nach dem, was sie auffaßten, Empörung oder Angst, Rauflust oder einen sittlichen Befehl und drängten nun in einem Zustand vorwärts, worin sie von solchen recht gewöhnlichen Vorstellungen geleitet wurden, die in jedem anders aussahen, aber trotz ihrer das Bewußtsein beherrschenden Stellung so wenig bedeuteten, daß sie sich zu einer allen gemeinsamen lebendigen Kraft vereinten, die mehr auf die Muskeln einwirkte als auf den Kopf. Auch Walter, der sich jetzt mitten im Zug befand, wurde davon angesteckt und geriet alsbald in eine aufgeregte und leere Verfassung, die mit dem Beginn eines Rausches Ähnlichkeit hatte. Man weiß nicht recht, wie diese Veränderung entsteht, die aus eigenwilligen Menschen in gewissen Augenblicken eine einwillige Masse macht, die der größten Überschwenglichkeit im Guten wie im Bösen fähig und der Überlegung unfähig ist, auch wenn die Menschen, aus denen sie besteht, zumeist ihr Leben lang nichts so gepflegt haben wie Maß und Besonnenheit."
...
Konzept der modernen Gesellschaft
Die Menschenmasse hat in diesem an Umfang selbst massenhaften Roman keineswegs akzidentiellen und peripheren Charakter. Im Gegenteil: Die grundsätzliche Relevanz der Masse wird durch einen Auftritt bereits im ersten Kapitel unterstrichen. Dort wird gezeigt, wie aus der unüberschaubaren Menge individueller Gesellschaftsteilchen sich plötzlich, aus Anlass eines Verkehrsunfalles, "[w]ie die Bienen um das Flugloch [¿] sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck an[ [setzt[en]", sich also eine Menschenmasse bildete.

Die 'Masse' als Konzept der nivellierten, atomisierten modernen Gesellschaft und die 'Masse' als die auf einen Ort zusammengekommenen Vielen orchestriert so von Beginn weg dieses Monument europäischer klassischer Moderne. Und so sehr sich sein Autor der Bedeutung der Menge bewusst war, so nachdrücklich beharrte er in der zitierten Stelle auf dem fundamentalen Nicht-Wissen, das dieses Phänomen umgibt.

Das Zitat setzt mit der Erwähnung eines allgemeinen Nicht-Verstehens ein, und es ist ein "[m]an weiß nicht recht", das den letzten Satz und damit die Passage über das qualitative Umschlagen zur Einheit der 'Masse' einleitet. Und in der Tat ist es die letztlich fehlende Kenntnis über das Wie und das Warum der Massenerscheinung, die sich hinter der wort- und metaphernreichen Beschreibung des Geschehens verbirgt.
Wenig gesichertes Wissen
Robert Musil legt mit dieser Formulierung den Finger auf die Wunde der Rede über die Menschenmasse, die seit der Französischen Revolution die Sinne und Geister nicht mehr los gelassen hat: nämlich, dass von der 'Masse' kein gültiges Wissen zu haben ist, sondern nur Bilder, Konzepte und Theorien.

Es waren die französische und italienische Massenpsychologie von Gabriel Tarde, Scipio Sighele und Gustave Le Bon, die für das frühe 20. Jahrhundert die diskursiven Figuren vorgaben, die jede Wahrnehmung und Rede von der 'Masse' präformierten.

Auf Grund lokaler Ereignisse, politisch-sozialer Gegebenheiten und räumlicher Verhältnisse konnten sich aber Modifikationen, ja auch Gegenentwürfe ergeben, die sich zwar stets implizit und explizit auf die frühe Massenpsychologie bezogen, deren Konzepte aber auch entscheidend verschoben und neue Akzente im Wissen von der Menschenmenge setzten.
...
Vortrag am 19. November 2008
Michael Gamper, Ich und die Menge. Massenpsychologie und Massenpolitik im Wien der Zwischenkriegszeit.
Ort: Wienbibliothek im Rathaus, Lichtenfelsgasse 2, 1010 Wien
Zeit: 18 Uhr s. t.
Veranstaltung im Rahmen der Reihe "Abschiede 1938. Die Vernichtung des geistigen Wien", veranstaltet von IFK, der Kulturabteilung der Stadt Wien - Wissenschafts- und Forschungsförderung/Wiener Vorlesungen - MA7 und der Wienbibliothek im Rathaus - MA9
->   Wienbibliothek
...
In Wien wurde 'Masse' gedacht
In dieser Weise kann auch die Situation im Wien der Zwischenkriegszeit beschrieben werden. Es lässt sich ein soziales Porträt dieser Stadt im methodischen Kreuzungsfeld von Ereignis-, Diskurs- und Imaginationsgeschichte entwerfen - ein Porträt, das von den beteiligten Autoren, unter ihnen Paul Federn, Sigmund Freud, Wilhelm Reich, Heimito von Doderer und Elias Canetti, als ein ambivalentes entworfen wurde, in dem die 'Masse' zugleich als ein gefahrvolles und hoffnungsreiches Potential sozialer Dynamik gesehen wurde.

In Wien wurde unter dem Druck der politischen Geschehnisse die 'Masse' von Psychologen, Philosophen und Schriftstellern gedacht, konzeptualisiert und gestaltet - daraus entstand das Bild einer spezifischen gesellschaftlichen Moderne mit internationaler Strahlkraft, das vorwiegend Personen entworfen haben, die in diesem Wien zunehmend keinen Ort mehr fanden.

[19.11.08]
...
Michael Gamper ist SNF-Förderprofessor für Literaturwissenschaft am Zentrum für Geschichte des Wissens an der ETH Zürich. In seiner Habilitationsschrift beschäftigte er sich mit der Menschenmenge. Sie erschien bei Fink unter dem Titel: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765¿1930, München 2007.
->   Michael Gamper, ETH Zürich
...
->   IFK
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010