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Neuroforscher simulieren perfekten Körpertausch  
  Sich komplett in einen anderen Körper hineinzuversetzen und diesen als eigenen zu spüren: Das klingt nach Science Fiction. Mit Hilfe von Kameras und Spezialbrillen ist genau das aber zumindest im Labor gelungen. Die Teilnehmer einer Studie hatten körperlich nachweisbar den Eindruck "in einem anderen zu stecken".  
Sie nahmen dabei auch wahr, wie sie sich quasi selbst die Hand geschüttelt haben, berichten die Neurowissenschaftler Valeria Petkova und Henrik Ehrsson vom Karolinska Institut in Stockholm.
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Ihre Studie "If I Were You: Perceptual Illusion of Body Swapping" ist am 3.12.08 in der Open-Access-Zeitschrift "PLos One" (Bd. 3, e3832) erschienen.
->   Studie
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"Body ownership"
Was das Selbst zum Selbst macht, wie eine einheitliche Ich-Wahrnehmung entsteht und ob es bei diesem Prozess eine Chef-Instanz im Gehirn gibt, darüber streiten Philosophen und Psychologen seit Jahrhunderten, seit geraumer Zeit besonders laut die Neurowissenschaftler.

Sie haben auch den Begriff der "body ownership" geprägt. Mit diesem "Körperbesitz" gemeint ist laut dem Neurophilosophen Thomas Metzinger "die bewusste Erfahrung, dass ein wahrgenommener Körper dein Körper ist, dass das Selbst innerhalb von Grenzen örtlich lokalisiert ist."
->   Thomas Metzinger: Self models (Scholarpedia)
Man kann sich nicht selbst kitzeln
Diese "body ownership" ist aber so eindeutig nicht. Die Probleme beginnen schon mit der Eigenwahrnehmung, die beim Menschen durchaus widersprüchlich ist. Sich selbst zu kitzeln ist uns z.B. unmöglich, wie schon der Wahrnehmungspsychologe Maurice Merleau-Ponty in den 1940er Jahren notiert hat.

Man kann nicht gleichzeitig die Empfindungen haben zu berühren und berührt zu werden. Die Wahrnehmung schlägt sich auf die eine oder andere Seite: von berührender oder berührter Haut, von greifender oder ergriffener Hand.
Kamera liefert "Erste-Person-Perspektive"
Dass man sich dennoch selbst die Hand geben und sogar als fremden Körper wahrnehmen kann, haben nun die Valeria Petkova und Henrik Ehrsson vom Stockholmer Brain Institute mit Hilfe von ausgeklügelten Experimenten gezeigt.

Wie schon bei ähnlichen Studien zuvor haben sie dabei Probanden mit Bildern versorgt, die Kameras live von anderen Menschen bzw. Gegenständen aufnehmen und ihnen dann via Augenbildschirme als eigene "Erste-Person-Perspektive" geliefert werden.
->   Erste-Person-Perspektive (Wikipedia)
Aus Puppe wird Selbst
 
Bild: Petkova und Ehrsson/PLoS

Im ersten Experiment wurde ihnen die Perspektive einer Schaufensterpuppe simuliert (linkes Bild), die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sahen also "mit den Augen" der Puppe auf dieselbe herab (rechtes Bild). Die Forscher berührten dann mit einem Stab sowohl ihren Bauch als auch jenen des Plastikkameraden. Und zwar in einem Fall synchron, in einem Kontrollfall asynchron.

Im gleichzeitigen Fall berichteten die Probanden bei einer Befragung danach, die Schaufensterpuppe als Selbst wahrgenommen zu haben. Bei den ungleichzeitigen Berührungen war dies nicht der Fall.

"Das zeigt, wie einfach es ist, die Wahrnehmung des Gehirns vom physischen Selbst zu verändern", meint Henrik Ehrsson. "Durch die Manipulation der Sinneseindrücke ist es möglich, dem Selbst andere Körper vorzutäuschen."
Angst: Objektive Körperreaktion
 
Bild: Petkova und Ehrsson/PLoS

Damit es nicht bei der subjektiven Selbsteinschätzung der Probanden blieb, maßen die Forscher in einem weiteren Schritt auch einen objektiven Körperwert, die elektrodermale Aktivität. Konkret: die Änderung des Hautwiderstands (skin conductance response; SCR). Diese gilt als eine körperliche Reaktion auf Stress und Angst.

Um letztere auszulösen wurde den Probanden vorgegaukelt, dass sie (bzw. sie als Puppe) von einem Messer geschnitten werden. Dazu wurde der Puppe ein Messer durch einen Bauchbereich gezogen, der ein wenig "vorgeschnitten" war.

Aus der Sicht von oben sah es für die Probanden so aus, als ob das Messer direkt durch den Bauch schnitt (Bild a: Vorderansicht der Puppe; Bild b und c: Puppe aus der Kameraperspektive von oben herab).
Messer sind gefährlicher als Löffel
Wieder wurden die Bäuche synchron bzw. asynchron berührt. Es stellte sich heraus, dass nur bei den gleichzeitigen Berührungen der SCR-Wert signifikant anstieg. D.h. die Versuchsteilnehmer hatten wieder die "Erste-Person-Perspektive" des Puppenkörpers übernommen und brachten seine Bedrohung und "Verletzung" selbst körperlich zum Ausdruck.

Diese Täuschung der Selbstwahrnehmung wurde durch ein weiteres Experiment bestätigt, indem ein Löffel anstelle eines Messers die Gefahr darstellte. In diesem Fall blieb eine körperliche Reaktion aus, da Löffeln offensichtlich kein besonderes Gefahrenpotenzial darstellen.
Funktioniert: Sich selbst die Hand schütteln
 
Bild: Petkova und Ehrsson/PLoS

Ein zweiter großer Experimentblock von Valeria Petkova und Henrik Ehrsson beschäftigte sich mit der Frage, ob man sich selbst die Hand schütteln kann. Man kann, lautet die Hauptaussage.

Aber auch hier nur dann, wenn es den Kamerabildern gelingt, dass man aus der eigenen Haut schlüpfen und mit den Augen eines anderen sehen kann.

Um das zu bewerkstelligen haben die Forscher ihre Probanden in eine selbstreferenzielle Situation begeben: Sie sahen sich dabei über die Kamerabilder zu, wie sie sich selbst die Hand schüttelten (siehe Bild).
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Menschliche Perspektive wichtig, Geschlecht nicht
Kein Unterschied zeigte sich, wenn Männer in die Perspektive von Frauen schlüpften oder umgekehrt. Das Geschlecht scheint bei dieser Illusion der Selbstwahrnehmung also keine Rolle zu spielen. Sehr wohl gilt das für Gegenstände: Bei Kontrollversuchen mit Stühlen oder Blöcken gelang es den Probanden nicht, sich in deren Perspektiven zu versetzen.
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Anwendungen der "whole body ownership"
Derartige Spiele mit Illusionen und Täuschungen des Selbst sind in der Wahrnehmungspsychologie an und für sich schon länger bekannt. In der Medizin etwa werden sie angewandt, um die Symptome von Phantomschmerzen zu behandeln. Dabei ging es aber meist um einzelne Körperteile.

Wie Petkova und Ehrsson in ihrer Studie betonen, sei ihnen der Nachweis gelungen, dass Menschen sich komplett die Perspektive von anderen aneignen können ("whole body ownership").

Und dies könnte in einer Reihe von Anwendungsgebieten von Bedeutung sein: etwa in der Medizin und Psychologie bei Fällen von gestörten Körperbildern oder in der Robotik und virtuellen Realität, wo es um eine möglichst genau Übernahme der menschlichen "Ersten Perspektive" geht.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 3.12.08
->   Valeria Petkova, Karolinska Institut
->   Henrik Ehrsson, Karolinska Institut
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01.01.2010