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Gibt es eine türkische Philosophie?  
  Die Türkei der Gegenwart: ein Spannungsfeld zwischen dem Nationalismus der noch jungen Republik und dem Wiedererstarken des Islam, zwischen Orient und Okzident. So lautet das durchschnittliche Stereotyp. Ein kleines, aber feines Projekt in Wien versucht dem überraschende Aspekte abzugewinnen. In einem Lesekreis werden philosophische Texte auf Türkisch gelesen - zum einen Übersetzungen aus anderen Sprachen, zum anderen in Originalsprache.  
Ob es eine "genuin türkische Philosophie" überhaupt gibt, ist indes umstritten, wie der Philosoph Franz Wimmer in einem Interview meint. Er leitet den Lesekreis, den es seit Herbst dieses Jahres am Institut für Wissenschaft und Kunst gibt.
science.ORF.at: Selbst in einschlägiger Fachliteratur findet sich zu türkischer Philosophie so gut wie nichts. Warum?

Da muss man historisch zurückgehen. Was die technischen Wissenschaften betrifft, war das osmanische Reich bis ins 17. Jahrhundert sehr fortschrittlich, danach stagnierte es. Die Philosophie im eigentlichen Sinn war arabisches Denken und erlebte ihre Blüte bis zum 12. Jahrhundert: die Falsafa-Philosophen, Averroes oder Avicenna. Diese aufklärerische Philosophie, die damals viel höher entwickelt war als im lateinischen Bereich, hört danach auf, innerhalb der islamischen Geistesgeschichte kam es zu einer Regression.

Auch und noch mehr bei den Osmanen: Es gibt zwar Sufismus und mit mythischer Dichtung auch eine Tradition von Weltanschauung, aber abgesehen davon kaum etwas. Zur Begegnung mit der neuzeitlichen europäischen Philosophie kommt es erst im 19. und 20. Jahrhundert. Heute spielt Philosophie als Fach in der Türkei eine eher marginale Rolle, wichtiger sind Ökonomie, Soziologie und Politikwissenschaft.

Innerhalb des Fachs ist im 20. Jahrhundert die Übernahme deutscher Philosophie wichtig - ausgelöst durch die Emigration von Philosophen während der Nazizeit wie Hans Reichenbach, Ernst von Aster, Joachim Ritter und Heinz Heimsoeth, die in der Türkei Institute und Schulen geprägt haben.
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Veranstaltung in Wien
Franz Wimmer ist auch Präsident der Wiener Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie, die die Zeitschrift "Polylog" herausgibt. Am Freitag, 12.12, 15.30 Uhr, feiert die Zeitschrift ihr zehnjähriges Jubiläum.
Ort: Festsaal des Afroasiatischen Instituts, Türkenstraße 3, 1090 Wien
->   Polylog
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Was lesen Sie im Lesekreis?

Der erste Text ist Kants "Was ist Aufklärung?". Ein Klassiker, der nicht allzu technisch ist. Sein erster Satz lautet: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit." Bei der Übersetzung fangen die Probleme schon hier an: Wer ist da der Mensch? Die Menschheit, der einzelne Mensch oder wir beide in einem Disput? Was ist die Unmündigkeit und was daran ist selbstverschuldet?

Es ist eigenartig: Auf Deutsch denkt man bei "selbstverschuldet" nicht daran, dass das irgendwie strafbar wäre, sondern nur quasi "selber schuld", was Kant ja auch schreibt, wegen Feigheit, Faulheit lässt man andere für sich denken. In der einzigen türkischen Übersetzung, die wir gefunden haben, wird ein Wort verwendet, das religiöse Aspekte nahelegt: "selbst-verschuldet" - Schuld geht da in Richtung Sünde, die man irgendwie bestrafen sollte.

Und so geht das weiter: Die deutsche Philosophiesprache ist eine Begriffssprache. Sie enthält zwar auch einiges an Latein und Griechisch, aber viele Wörter wurden begrifflich gefasst, wie die Unterscheidung von Vernunft und Verstand oder Freiheit und Selbstbestimmung. Im Türkischen ist die Begrifflichkeit hybrid, das Türkische ist stark durchsetzt vom Arabischen und Persischen. Die Terminologie des Rechts, der Medizin, der Religion und auch der Philosophie war im Osmanischen arabisch oder persisch.

Dem wurde konsequent in der türkischen Republik nach dem Ersten Weltkrieg entgegengesteuert, es wurden neue Wörter geschaffen, sodass es heute in vielen Fällen zwei Wörter gibt - wie etwa für Freiheit. Das alte Wort "serbest" aus dem Persischen passt für Kant meistens besser, meinen die Teilnehmer des Lesekreises, nur manchmal das neu-türkische Wort "özgürlük", das mehr Selbstbestimmung bedeutet. So etwas ist ein echtes Problem, wenn man versucht, einander zu verstehen.
Dass deutsche Philosophie schwierig zu übersetzen ist, gilt aber nicht nur für das Türkische.

Nein, aber im Englischen oder Französischen z.B. ist das schon einfacher. Kant auf Englisch oder Französisch zu lesen, kann durchaus das Verständnis des Gemeinten fördern. Gegenseitige Übersetzungen in diese Sprachen haben eine lange Geschichte, mit dem Türkischen ist das nicht der Fall. Es hat nichts vom Latein, nur wenig vom Griechischen. Überall, wo wir Lehnworte aus dem Griechischen verwenden - etwa "Logik" -, verwendet das Türkische arabische Wörter. Und die sind nur teilweise vor 1.000 Jahren vom Griechischen beeinflusst worden und bedeuten oft etwas ganz anderes.
Aus welchem Jahr stammt die Kant-Übersetzung?

Aus den 1980er Jahren. Die Frage ist aber prinzipiell interessant: Wir werden in dem Lesekreis auch einen Text lesen von Bertrand Russell, den es gar nicht auf Deutsch gibt. Er betrifft das Verhältnis von Wissenschaft und Religion, wobei Russell eben das Christentum im Blick hat. Die Übersetzung ins Türkische stammt aus den 1970er Jahren und klingt heute fast überholt, obwohl sie moderner im Sinn der Sprachreform Atatürks war als das heutige Türkisch. In der Zwischenzeit sind wieder sehr viel mehr arabisch-persische Ausdrücke zurückgekommen, unabhängig davon, ob die Autoren politisch links oder rechts stehen, islamisch sind oder nicht.
Wer sitzt in dem Lesekreis?

Die Teilnehmer müssen drei Bedingungen erfüllen: sie müssen Türkisch sowie Deutsch sprechen und etwas von Philosophie verstehen. Es sind drei Gruppen: erstens Studierende, die aus der Türkei kommen, in Wien studieren und Deutsch als zweite Sprache brauchen. Zweitens in Österreich Geborene, die natürlich ausgezeichnet Deutsch beherrschen, aber im Türkischen Probleme haben, weil sie es nie als Schulfach hatten. Die wollen anspruchsvollere Texte lesen können als eine Zeitung. Die dritte Gruppe sind Österreicher ohne türkischen Hintergrund, die Türkisch gelernt haben und nun intensivieren wollen. Dazu gehöre auch ich. Kurz gesagt arbeiten wir an einem interkulturellen deutsch-türkischen Wörterbuch der Philosophie.
Was wird in der Türkei heute gelehrt unter "Philosophie"?

Es gibt das Fach mit unterschiedlichen Schwerpunkten an allen großen Universitäten. Wichtig ist die analytische Tradition, die englische Philosophie, sie ist heute stärker als die deutsche und französische. Es wird Logik gelehrt, Erkenntnistheorie, Ethik, der gleiche Fächerkatalog wie bei uns. Ein aktueller Bestseller mit dem Titel "Geschichte der westlichen Philosophie" zeigt: Philosophie gilt als etwas Westliches.

Der Kanon ist bekannt: von Aristoteles und Platon bis heute. Er wird aber in einer überraschend anderen Perspektive gelesen, nämlich im Kontext des Christentums. In diesem Buch etwa gibt es ein langes Kapitel über den Apostel Paulus und über die Gnosis. Hinweise auf die religiösen Zusammenhänge von Begriffen wie Entfremdung, Selbstverwirklichung oder Freiheit begegnen einem hier öfter als in einer westlichen Darstellung. Man bekommt den Eindruck, dass die westliche Philosophie als Nebenprodukt des Christentums verstanden wird - was unserem Verständnis widerspricht.
Haben wir das einfach vergessen?

Möglicherweise ja, und insofern ist das interessant, die Sache einmal von außen zu sehen.

Gibt es abseits der arabisch-mittelalterlichen eine eigene türkische Philosophie?

Das ist eine Streitfrage. Bayram Kaya zum Beispiel hat 2005 eine "Geschichte der türkischen Philosophie" veröffentlicht. Er legt dabei Wert auf die Sprache, sammelt Dichter und Denker, die sich in Turk-Sprachen ausgedrückt haben, wie z.B. in der klassischen Periode des 13. Jahrhunderts Yunus Emre. Das ist ein Mystiker aus dem Volk, so ähnlich wie Meister Eckhart, er schreibt nicht in der Hoch- und Wissenschaftssprache Arabisch, sondern Türkisch.

Ein anderer Denker dieser Periode, Sheikh Bedreddin, wäre wohl noch interessanter, wenn wir die Parallelen zwischen der türkischen und der westeuropäischen Geschichte verstehen wollen. Das Buch behauptet, es gebe so eine türkische Denktradition und sieht sie auch noch in den Diskursen des 19. und 20. Jahrhunderts. Dieser nachzugehen, ist aber eine sehr rezente Angelegenheit.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 12.12.08
->   Wiener Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie
->   Institut für Wissenschaft und Kunst
Mehr zu dem Thema:
->   Wer war Scheich Bedreddin? (oe1.ORF.at)
 
 
 
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01.01.2010