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"Das Internet ist unsere Drosophila"
Daniel Dennett über mutierte Meme, Bischöfe und Popmusik
 
  Zum Auftakt des Darwin-Jahres 2009 ein Beitrag über einen jungen und durchaus umstrittenen Seitenarm des Darwinismus: die Memetik. Meme, das sind Ideen, Moden und Melodien, die in den Köpfen der Menschen herumspuken. Der US-Philosoph Daniel Dennett behauptet: Meme sind in gewisser Hinsicht wie Gene, sie vermehren sich und durchlaufen ihre eigene Evolution. Im Gespräch mit science.ORF.at erläutert er, warum wir die Religions-Meme domestiziert haben und soviel Popmusik hören.  
Semantische Infektionen
"Language is a virus from outer space", schrieb einst William S. Burroughs. Laurie Anderson bestätigte seine These eindrucksvoll, indem sie den Satz für einen Popsong übernahm - und auf diese Weise weitere Zuhörer infizierte.

Die Vertreter der Memetik sehen das ähnlich, nur mit einem nicht unwesentlichen Unterschied: Sie meinen sie es wirklich ernst. Kultur ist für sie nichts anderes als eine Selektionsdynamik von "Kulturgenen", 1976 von Richard Dawkins offiziell als "Meme" bezeichnet, die durch unsere Köpfe, Bücher und nicht zuletzt durch elektronische Medien schwirren.

Das mag man so sehen, im Fall des viralen Marketings ist es etwa durchaus offensichtlich, dass man eine Analogie zwischen sich im Internet vermehrenden Youtube-Videos und der Verbreitung von Genen im Genpool ziehen kann.
Metapher oder Wissenschaft?
Die Frage ist nur: Bleibt es bei der bloßen Analogie oder reichen die Parallelen tiefer? Sind Meme auf ihre Art "lebendig"? Und: Betrifft das einige Sonderfälle unserer Kultur oder wirklich sämtliche Bestandteile? Ist die etwa die Entdeckung des Feuers ebenso ein Mem wie der letzte Hit von Britney Spears?

Die Vertreter der Mem-Theorie, allen voran die britische Psychologin Susan Blackmore sowie der US-Philosoph Daniel Dennett, würden all diese Fragen mit der stärksten der möglichen Varianten beantworten. Für sie gibt es im kulturellen Feld die ganze Palette der biologischen Evolutionsfaktoren (wieder) zu entdecken: Mem-Mutationen, Mem-Selektion, Mem-Anpassungen usw.
Nach dem Hype
Dass diese Sicht der Dinge von den Sozial- und Geisteswissenschaft meist als unzulässige Verkürzung ihres Gegenstandsbereiches qualifiziert wurde, muss nicht extra betont werden. Es gab allerdings auch Kritik aus der Biologie. Der US-Paläontologe und prominente Buchautor Stephen J. Gould meinte etwa einmal in einer Radiodebatte, die Mem-Theorie sei nur eine "bedeutungslose Metapher."

Andererseits muss man zugeben: Susan Blackmores Manifest "Die Macht der Meme" und Dennetts Auseinandersetzung mit dem Thema, "Darwins gefährliches Erbe", bieten eine komplett neue Weltsicht an, die den Leser animiert oder zumindest provoziert. Ob sie auch stimmt, wird sich zeigen. Momentan sieht es so aus, als wäre der Memetik-Boom der späten 90er deutlich abgeflaut.

Ein Hinweis ist etwa die Tatsache, dass kaum mehr Bücher und Aufsätze zum Thema publiziert werden, selbst das offizielle Publikationsorgan, das "Journal of Memetics", wurde im Jahr 2005 eingestellt. Aber wer weiß, vielleicht erholt sich das Mem-Mem in Zukunft wieder. Daniel Dennett ist jedenfalls ungebrochen optimistisch - siehe folgendes Interview.
Bild: Wikipedia/David Orban
Daniel Dennett
science.ORF.at: Ist es nicht sehr eigenartig, Kultur und Ideen auf darwinistische Weise zu betrachten?

Daniel Dennett: Nein, überhaupt nicht, das wurde schon vor langer Zeit gemacht. Lassen sie mich auf einen Teil der Kultur hinweisen, der bereits seit Darwin so betrachtet wird: Das sind die Wörter. Nichts ist offensichtlicher als die Tatsache, dass Wörter Nachkommen anderer Wörter sind. Das englische "table" stammt beispielsweise von seinem Vorgänger "tabula" aus dem Lateinischen ab - usw.

Wörter sind vermutlich die einfachsten sich replizierenden kulturellen Einheiten, die man untersuchen kann. In einer gewissen Hinsicht ist das Internet unsere Drosophila. Es ist unser Modellorganismus, weil man daraus sehr einfach Daten über die im Web verfügbaren Wörter gewinnen kann. Sie sind die besten Beispiele für Meme. Unter anderem deswegen, weil man sie aussprechen kann. Aber es gibt natürlich auch Meme, die man nicht aussprechen kann.

Die Evolution der Lebewesen wird durch Mutation und Selektion vorangetrieben. Wo finden wir die in der Welt der Ideen?

Nehmen wir beispielsweise die Musik: Denken sie etwa an das Phänomen von Coverversionen. Da gibt es Varianten ein und desselben Popsongs, die um Aufmerksamkeit konkurrieren. Und wie sie wissen, wird eine Coverversion mitunter öfter gespielt als das Original.
Popmusik ist ein gutes Stichwort. Warum sind der Pop und seine Derivate so viel erfolgreicher als die anderen Musikformen?

Ich bin mir nicht sicher, dass die Memetik jene Disziplin ist, die das erklären kann. Aber eines ist offensichtlich: Es ist die Technologie. Jedes 10-jährige Kind hat heute mehr Musik von professionellen Musikern gehört als Mozart in seinem gesamten Leben. Aus dem einfachen Grund: Es gibt die Technologie Musik aufzunehmen. Medien stellen heute eben den Soundtrack zu unserem Leben her. Broadcasting ist ein komplett neues Phänomen für die Übertragung von Musikstücken.

Aber das erklärt nur, warum wir heutzutage so viel Musik hören, aber nicht welche Art von Musik.

Stimmt, das erklärt es nicht. Welche Art von Musik besonders fesselnd ist und uns zum Zuhören animiert, muss meiner Meinung nach in Begriffen der Neurowissenschaft und Psychologie erklärt werden. Über die Verarbeitung von Musik im Gehirn gibt es ja bereits sehr schöne Forschungsarbeiten.
Was ist die materielle Basis der Meme? Sind das Erregungsmuster im Gehirn oder gedruckte bzw. gespeicherte Wörter?

Alles zusammen. Es gibt nicht nur eine materielle Basis, sondern verschiedene, das ist einer der größten Unterschiede zwischen Genetik und Memetik. Ich glaube es ist falsch, wenn man sagt: Es gibt etwas im Gehirn und das ist die physikalische Realisierung des Mems.

Natürlich gibt es etwas in ihrem und meinem Gehirn, nehmen wir das Beispiel bifokaler Gläser, die von Benjamin Franklin erfunden wurden: Er hatte eine Idee in seinem Kopf, sie und ich auch. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass sie - strukturell - etwas gemeinsam haben. In dieser Hinsicht sind Meme ganz anders als DNA.

Wir müssen uns auf die semantische Ebene begeben, um Gemeinsamkeiten zu finden. Das ist ja in gewisser Hinsicht der Witz an der menschlichen Kultur, dass sie mit semantischen Ähnlichkeiten arbeitet, die nicht von syntaktischen Ähnlichkeiten abhängig sind. Sie und ich können etwa sagen, "Die Brüder Karamasow" gelesen zu haben, auch wenn wir kein Russisch beherrschen. Wir können es eben auch in Übersetzungen lesen.
"Heute sind die Meme domestiziert"
Gene kennen Dinge wie Evolution, Mutation und Anpassung. Die Entwicklung und Änderung von Ideen könnte man mit etwas Wohlwollen ebenfalls als " Evolution" und "Mutation" auffassen. Bei der Anpassung scheint das nicht so einfach zu sein. Wenn man darwinistisch argumentieren wollte, müsste man zunächst zeigen, dass Meme durch "Mutationen" fitter werden.

Ja natürlich. Nehmen wir etwa die Entstehung von Religion aus dem Aberglauben. Hier haben sich jene Formen des Aberglaubens durchgesetzt, die folgende "Anpassung" hatten: Sie waren unvergesslich. Sie waren aufregend genug, um weitergegeben zu werden, stimulierend und provokant. Sie mussten sich, wenn man so will, selbst verteidigen. Damals waren die Meme noch wild, heute sind sie domestiziert.

Heute haben wir "Mem-Schäfer": Menschen, deren Job es ist, Meme zu bewahren. Zur Zeit des Aberglaubens gab es eben noch keine Konzile und Bischöfe.

Anderes Beispiel: Jeder Wissenschaftler weiß heute, dass er seinen Theorien einen Schwung versetzen kann, wenn er sie mit einer auffallenden Etikette, einer fesselnden Phrase oder einem guten Akronym versieht. Wer das nicht tut, kann die beste Theorie der Welt haben: Dennoch läuft sie Gefahr, vergessen zu werden. Sie wird nicht "fliegen". Das heißt: Heute statten wir unsere Meme bewusst mit den richtigen Anpassungen aus, wir designen sie.
So gesehen könnte man den Trend zum griffigen Schreibstil - ihre Bücher sind da ein gutes Beispiel - als einen Selektionstrend bezeichnen.

Charles Darwin hat in seiner "Entstehung der Arten" verschiedene Arten der Selektion vorgestellt: Natürliche Selektion, bewusste Pflanzen- und Tierzucht usw. Diese Unterscheidung kann man auch bei Memen treffen. Meine Bücher gehören ohne Zweifel zur zweiten Kategorie - ob sie das tatsächlich erfolgreich macht, ist freilich eine andere Frage. Ein Buch zu lesen ist im Übrigen nicht genug: Man muss sich auch daran erinnern.

Sie sagten vorhin: "Wir haben Meme domestiziert." Könnte es nicht auch umgekehrt sein?

Gute Frage, es ist wohl ein bisschen von beidem. Es gibt eine Reihe von Autoren, die behaupten, wir hätten uns bzw. die Kultur hätte uns domestiziert. Andererseits haben wir, sobald wir uns der Kultur bewusst wurden, selbst versucht, diese zu zähmen. Es geht also in beide Richtungen.
"Wir sind Affen mit Hirnen voller Meme"
Anders gefragt: Sind wir - trotz der Meme - in unseren Handlungen frei?

Das sind wir. Wir sind zwar Affen mit einem Hirn voller Meme, aber wir können, wie Nietzsche sagte, eine "Umwertung aller Werte" vornehmen. Diese Fähigkeit zur Reflexion verdanken wir der Tatsache, dass unsere Gehirne mit Ideen infiziert sind. Es ist die Kultur, die uns befreit.

Andere würden vielleicht sagen: Sie versklavt uns. Das kann natürlich passieren, Gehirnwäsche durch religiösen Fanatismus ist so ein Beispiel, aber wenn wir die Kultur annehmen und uns zu Eigen machen, dann sind wir selbstverständlich frei. So ist das mit der Kultur: Manches empfinden wir als Bürde, manches macht uns stolz, wir selbst zu sein. Natürlich ist auch diese Zuschreibung ihrerseits ein Kulturprodukt.

Ist die Memetik eine wissenschaftliche Theorie? Vielleicht ist sie ja nur eine nette Metapher.

Wohl etwas dazwischen. Die Memetik ist zunächst sicher eine charmante Metapher. Metaphern haben in der Wissenschaft eine Art Pionierfunktion. Sie laden Menschen ein, über Dinge auf eine andere Art und Weise nachzudenken und sie bereiten neue Entdeckungen vor. Ich würde sagen: Die Memetik ist auf dem Weg, eine Wissenschaft zu werden.

Aber es gibt, wenn man so will, heutzutage eine ganze Menge angewandter Memetik: Die politischen Parteien versuchen ja dauernd Slogans und Soundbites zu kreieren, die sich wie Feuer ausbreiten.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at, 2.1.09
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Dieser Beitrag ist der erste zum Darwin-Jubiläumsjahr 2009 auf science.ORF.at. Einen Darwin-Schwerpunkt wird es auch im Radio geben - siehe Programmlink.
->   Darwin auf Ö1
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->   Daniel C. Dennett
->   Susan Blackmore
->   Memetik - Wikipedia
 
 
 
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01.01.2010