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Russland: Das Andere Europa(s)  
  Nicht erst seit dem aktuellen Gasstreit hat Europa ein ambivalentes Verhältnis zu seinem äußersten Osten: Russland wurde und wird als "das Andere" konstruiert, durch das man selbst erste eigene Identität gewinnt. Ein Musterbeispiel dafür ist französische Reiseliteratur über Sowjetrussland im frühen 20. Jahrhundert, die die Kulturwissenschaftlerin Martina Stemberger in einem Gastbeitrag beschreibt.  
Französische Reiseliteratur über Sowjetrussland zwischen 1917 und 1939
Von Martina Stemberger

"Das Andere Europa ist (...) ein schlecht definierter Begriff, absichtlich vielleicht. Was ist anders an diesem Teil Europas, was ist europäisch an dieser Alterität?", fragt Predrag Matvejevic. Zwischen 1917 und 1939 erscheinen zahlreiche französische Reiseberichte und Reportagen über das 'neue Russland', auch das 'Andere Europa' genannt, nicht zuletzt Objekt europäischer Selbstreflexion.

Wie Ezequiel Adamovsky schreibt, war Russland traditionell eines jener "fundamental others", an denen die französische Reflexion über die 'europäische' Zivilisation, die eigene 'westliche' Identität festgemacht wurde.

Russland, nicht ganz Europa, aber auch nicht ganz Nicht-Europa, "Europe's main liminar" (Iver B. Neumann), spielte eine spezifische Rolle als rebellisches Objekt des 'othering': "The difficulty of 'nailing down' Russia's otherness (...) helped (...) to re-define European identity" (Adamovsky).
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Vortrag in Wien
Martina Stemberger hält am Montag, 12.1.2008, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Das Andere Europa(s) in französischer Reiseliteratur: Sowjetrussland zwischen 1917 und 1939".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
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Die Abweichung von der - westlichen - Norm
Die Bezeichnung 'Autre Europe', die auch Fernand Braudel später in seiner Grammaire des civilisations gebraucht, schlägt Luc Durtain 1928 in seinem Reisebericht L'Autre Europe. Moscou et sa foi vor - anstelle der Begriffe 'Russland' und 'Sowjetunion', die "so viele politische Leidenschaften transportieren".

Die vermeintlich wertneutrale Formel des 'Anderen Europa' führt jedoch eine neue Hierarchie ein. Nicht nur, dass sie jenes 'Andere' aus seiner Relation zu 'Europa' heraus definiert; Durtain selbst spricht gleich darauf vom westlichen als dem 'wahren' Europa. Diese "veritable Europe" stiftet die Norm des Europäischen, den Maßstab, nach dem auch Russland beurteilt - und oft genug verurteilt - wird.

Bis heute, wie Karl Schlögel feststellt: "Rußland ist immer das Unvollkommene, das Andere, das daran gemessen wird, was wir kennen und was uns vertraut ist. Rußland ist die Abweichung von der Norm, und was die Norm ist, das bestimmen wir (...) Wir haben unseren Katalog von Kriterien und unsere Koordinaten: schlimm für Rußland, wenn es da nicht hinein paßt."
Eine bewusste und narzisstische Hierarchisierung
Andere französische Reisende der Epoche nehmen die Hierarchisierung diverser 'Europas' bewusst vor - und damit aktuelle Diskussionen über 'Kern'- und 'Rand'-Europa vorweg.

Elisabeth de Gramont unterscheidet 1933 zwischen 'Europa A' und 'Europa B'; Dragan Velikic reflektiert in seinem Essay Europa B (2003) die Abgrenzungs-Mechanismen, die heute das Verhältnis zwischen EU-Europa als 'Europa' tout court und seiner 'Peripherie' regeln: "Wenn wir Europa sagen, dann denken wir nicht an Moldawien, Bosnien oder Serbien, denn die geographische Zuordnung allein ist nicht hinreichend, um zum Parkett dieses Begriffes gezählt zu werden. (...) Europa ist eine Norm, die nicht nur auf bequeme und pünktliche Eisenbahnen zu beschränken ist."

Jenes Norm-Europa, das sich zum Richter nicht nur über den ökonomischen, sondern auch den politischen und kulturellen Reifegrad der 'Entwicklungsländer' an der europäischen Peripherie aufwirft, bleibt auf den begehrenden und bestätigenden Blick 'seiner' Anderen angewiesen. Velikic: "Der Westen genießt (...) narzisstisch sich selbst als unerreichbares Objekt der Begierde des Anderen."
Andersheit stützt eigene Identität
Die französischen Sowjetrussland-Reiseberichte der Zwischenkriegszeit demonstrieren geradezu exemplarisch die diskursive Konstruktion einer für die eigene Identität konstitutiven Alterität. Die Erfindung Rußlands (Boris Groys), des 'Anderen Europa', wird zur Neuerfindung des 'eigenen', des 'eigentlichen' Europa; in der Sowjetunion weiß man endlich wieder (oder glaubt zu wissen), was 'Europa', wer man selbst als 'Europäer' ist.

Das wahre Ziel vieler dieser Reisen scheint nicht Sowjetrussland, sondern Frankreich; hier wird "eine Reise um die Welt zum Eigenen" unternommen, ein erneutes "Bekenntnis zum Eigenen" (Ottmar Ette) abgelegt. Georges Duhamel erklärt 1927, er habe sich nie so sehr als "Occidental" gefühlt wie in Russland; Georges Le Fevre schließt salopp: "es geht einem verdammt gut bei uns" (1929).
Kommunisten wie Marsmännchen
Das Interesse an der "radikalen Alterität" (Francois Hourmant) des 'Anderen Europa' ist allen ideologischen Fraktionen gemeinsam. Für die sowjet-skeptischen Polit-Touristen ist die stereotype 'Andersartigkeit' Russlands ein zentrales Argument in ihrem Abwehrkampf gegen die 'bolschewistische Gefahr'.

Aber auch für die pro-sowjetischen 'Pilger' muss die Sowjetunion völlig anders sein als der kapitalistische Westen; sonst ist ihr utopischer Status gefährdet. Radikale Verfremdungs-Strategien finden sich oft gerade bei überzeugten Kommunisten - so lädt Paul Vaillant-Couturier die Leser seines Berichts 1926 ein, ihn auf seiner Reise zum "Planeten Mars" - einer Reise zugleich in die Zukunft - zu begleiten.
Ambivalente Entdeckungsreisen
Die Reiseberichte aus der schönen oder schrecklichen neuen Welt der Sowjets - Paradies oder Inferno? (Le Paradis infernal titelt Victor Boret 1933) - fungieren auch als Ersatzprogramm für in einer immer kleiner werdenden Welt zusehends obsolete Entdeckungs-Narrative: "Man kennt allmählich die Sahara und ihre Oasen, den Pol und sein Packeis. Die rote Republik kennt man nicht" (Vaillant-Couturier).

Ein zentrales Paradigma der französischen Auseinandersetzung mit 'neuem' wie 'altem' Russland ist die 'Entdeckungsreise' in ihrer Ambivalenz zwischen der Erkundung einer exotischen terra incognita und der Demaskierung, die an einer als (be)trügerisch wahrgenommenen fremden Realität vollzogen wird.

Die doppelte Obsession der 'Entdeckung' ist mindestens bis zu Astolphe de Custines La Russie en 1839 zurückzuverfolgen. Custines These, Russland, Reich der Fassaden bzw. der berüchtigten 'Potemkinschen Dörfer, verfügte lediglich über die "apparences de la civilisation", ist auch in den Reiseberichten der Zwischenkriegszeit noch präsent.
Nach wie vor aktuell
In einer Zeit, da Identität und Grenzen Europas neu definiert werden, da das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen - durchaus nicht konfliktfrei - neu ausgehandelt wird, sind diese Texte, Teil der komplexen Geschichte europäisch-russischer Identitäts-/Alteritäts-Diskurse, in vieler Hinsicht sehr aktuell.

Auch heute besteht, wie Neumann bemerkt, die Versuchung, auf Kosten eines 'alterisierten' Russland die Integration des europäischen 'Selbst' voranzutreiben; "the patronising spirit of Euro-Orientalism" (Adamovsky) erlebte mit dem Ende der Sowjetunion seine Revanche: Helene Carrere d'Encausse erklärt 1992 anlässlich des Jubiläums der 'Entdeckung' Amerikas das postsowjetische Russland zur neuen 'Neuen Welt', die es nun zu entdecken gelte.

Custines Klassiker des Anti-Russismus wurde schon 1989 in den USA - unter dem verräterisch 'falschen' Titel Empire of the Czar: A Journey Through Eternal Russia - neu aufgelegt, um zu zeigen, dass "some tendencies that we attribute to 'communism' today may simply be Russian: expansionism, autocracy, bureaucracy, centralism, secrecy, contempt for personal rights and public opinion, and so on".

Zum Abschluss sei noch einmal Karl Schlögel zitiert, der darauf hinweist, dass Europa "kein pädagogisches Projekt" ist: "Dem bisherigen Westeuropa und der EU steht eine Kultur der Selbstrelativierung gut an (...)"; "Das östliche Europa muß indes nicht nach Europa zurückkehren, denn es war immer dort (...)".

[12.1.09]
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Über die Autorin
Martina Stemberger studierte Romanistik und Slawistik in Wien und Paris. 2002-2007 Mitarbeiterin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, seit 2008 Lektorin am Institut für Romanistik der Universität Wien. Habilitationsprojekt: L'Autre Europe oder literarisch-politische Grenzüberschreitungen: "Altes" und "neues" Russland in französischen Texten der Zwischenkriegszeit.
->   Martina Stemberger, IFK
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Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Russland und seine Dichter
 
 
 
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01.01.2010