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Die ersten Europäer  
  Außergewöhnliche Entdeckungen menschlicher Fossilien in Atapuerca, einem kleinen Dorf in der Nähe der nordspanischen Stadt Burgos, stellen das bisherige Modell der Evolution des Menschen in Frage. Es scheint so, dass Europa wesentlich früher als bisher angenommen, nämlich zumindest seit 800.000 Jahren besiedelt worden ist.  
Unsere Vorfahren aus jener Zeit zeichneten sich durch eine einzigartige Kombination von primitiven und modernen Eigenschaften aus. Die Fossilien von Homo antecessor verhelfen uns zu einem besseren Verständnis der Evolution der Neandertaler und rücken uns selbst, als Homo sapiens, in eine klar abgegrenzte Position zu ihnen.
Stichwörter zur Evolution des Menschen
Befragt man einen Durchschnittsbürger auf der Straße über den Hergang der Evolution des Menschen, fallen, wenn überhaupt, gewöhnlich zwei Stichwörter: "Afrika" und "Neandertaler". Stellt man diese Frage jedoch in Spanien, so fällt auch noch ein drittes Wort: "Atapuerca".

Man weiß, dass wesentliche Abschnitte der Evolution des Menschen in Afrika stattgefunden haben. Obwohl vor etwa 100 Jahren, zur der Zeit der Entdeckung der ersten Hominiden (das sind alle Mitglieder aufrecht gehender, eben menschlicher Primaten, d.h. die gesamte Gruppe unsrer fossilen Vorfahren), auch noch der Ursprung der Menschen in Asien diskutiert wurde, scheint die enorme Konzentration an fossilen Resten unserer ältesten Vorfahren, der sog. Australopithecinen, Afrika als die Wiege der Menschheit zu bestätigen.
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Australopithecus
Diese Australopithecinen traten vor etwa 4.5 Mio. Jahren in Form von affenähnlich aussehenden, aber eben aufrechtgehenden Lebewesen zum ersten Mal in Erscheinung. Sie entwickelten rasch eine enorme Vielfalt an robusten und grazileren Formen, aus denen sich ab etwa 2.5 Mio. Jahren die Entwicklung der Gattung "Homo" ableiten läßt. Diese taxonomische Gruppe, die Gattung zu der auch wir gehören, zeichnet sich vor allem durch eine kontinuierliche Zunahme des Gehirnvolumens und der Körpergröße als auch durch die Herstellung und den Gebrauch von Steinwerkzeugen aus
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Die Bedeutung des Neandertalers
Das zweite Stichwort, die "Neandertaler", kennt man als eine faszinierende Gruppe von Menschen, die während der letzten 150 - 30.000 Jahre in Europa gelebt hatten. Seit ihrer erstmaligen Entdeckung im deutschen Neandertal, nahe bei Düsseldorf im Jahre 1856, hat man viele weitere Funde in Frankreich, Spanien, Italien, Belgien, und im südöstlichen Europa gemacht. Sie erfreuen sich - gesellschaftlich betrachtet - einer wechselhaften Beliebtheit.
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Neandertaler
Obwohl die Fossilien der Neandertaler natürlich nie ihre Form geändert haben - die Neandertaler hatten mittelgroße gedrungene kräftige Körper und robuste grobe Züge im Schädel- und Gesichtsskelett - bezog die Interpretation dieser Menschen, entsprechend dem jeweiligem sozialen Paradigma, sehr veränderliche Positionen. Sie wurden in der Anfangsphase der Paläoanthropologie - der Wissenschaft von der Evolution des Menschen - in einen Bereich entweder am Rande zur Tierwelt (behaarte Affenmenschen), oder, wie es in späterer Zeit der Fall war, am anderen Ende des Spektrums, in Richtung Menschlichkeit gestellt (eine Art Cousin des modernen Menschen). Schließt man aus aktuelleren Publikationen, so scheint es, als würde sich der Trend zur Humanisierung der Neandertaler auch weiterhin aufrechterhalten.
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Zentrale Fragestellungen
Wie jedoch hängen nun unsere afrikanischen Vorfahren mit den Neandertalern zusammen? Was weiß man über ältere Besiedlungen von Europa, die nicht von Neandertalern stammen? Welche anderen Menschenformen haben hier gelebt? Unter welchen Bedingungen, wann und wo? Und schließlich: Welche Rolle spielen wir selbst, als Homo sapiens in diesem großen Zusammenhang?

Fragen über Fragen. Es handelt sich hierbei um klassische Problemstellungen der Paläoanthropologie. In ihrer Gesamtheit dienen sie der Rekonstruktion der menschlichen Evolution im Pleistozän (die geologische Epoche vor 1.7 Millionen bis vor 30.000 Jahren) und einer biologisch sehr komplexen Geschichte. Es ist dies die Entstehungsgeschichte von uns selbst.
Zwei widersprüchliche Modelle
Um das Erscheinen des sog. anatomisch modernen Menschen, Homo sapiens, zu erklären, bediente sich die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten zweier Modelle. Das eine wird als "Out of Africa" Hypothese diskutiert. Diese kladigenetische Theorie schlägt einen vergleichsweise jungen und abrupten Ursprung unserer Art, Homo sapiens, vor nicht mehr als etwa 300.000 Jahren in Afrika vor
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Out of Africa
Populationen anatomisch moderner Menschen sind aus Afrika über die Levante, die arabische Halbinsel, nach Europa und Asien ausgewandert. Sie hatten die in Europa (aus früheren Migrationen) ansässigen Bevölkerungen ersetzt. Die Theorie stützt sich auf die ältesten Funde des anatomisch modernen Menschen, z.B. in Omo, Klasies River, Border Cave, (afrikanische Fundorte, etwa 130 - 100.000 Jahre alt), und Funde im nahen Osten (Jebel Irhoud, Skuhl, Qafzeh) ebenso, wie auf Befunde paläogenetischer Untersuchungen.
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Das andere, anagenetische Modell, welches dem ersten eindeutig widerspricht, ist als graduelle "Multiregionale Hypothese vom Ursprung des Menschen" bekannt.
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Multiregionalhypothese
Es sieht vor, dass Homo erectus in Afrika entstanden ist und vor viel längerer Zeit, nämlich etwa 1 Mio. Jahre, die gesamte Alte Welt besiedelt hat. Die verschiedenen geographischen Gruppen hätten sich danach parallel und von Region zu Region unterschiedlich, zu den Menschen heutigen Aussehens, in Form einer Chronospezies Homo sapiens, entwickelt. Die multiregionale Hypothese stützt sich ausschließlich auf die Interpretation der vergleichenden Anatomie und Morphologie, also der Formanalyse menschlicher Fossilen.
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Wo, Wer, Wann?
Wie auch immer die ersten Einwanderer aus Afrika nach Europa kamen, sie hinterließen wenige Spuren. Im Jahre 1907 wurde in Mauer, in der Nähe der deutschen Stadt Heidelberg, ein Unterkiefer entdeckt. Lange Zeit dachte man, dass diese ungewöhnlich robuste Mandibel, deren Alter auf ungefähr 500.000 Jahre eingeschätzt wird, zu den ältesten europäischen Fossilien zählte.

In Arago, bei Tautavel im südöstlichen Frankreich, fand man einen stark deformierten Schädel zusammen mit einigen Steinwerkzeugen, mit einem geschätzten Alter von 400.000 Jahren. Nicht älter dürfte ein Fund in Griechenland, in Petralona, sein. Es handelt sich hierbei um eines der größten und robustesten Schädelexemplare, die je gefunden wurden.

Ungefähr 400.000 Jahre dürfte auch das Alter eines Schädels sein, den man relativ komplett in Steinheim, ganz in der Nähe von Mauer, gefunden hatte. Englische Wissenschafter entdeckten in Boxgrove bei Sussex, eine Tibia, ein Schienbein, ebenso mit Steinwerkzeugen assoziiert und nicht älter als 500.000 Jahre.
Die Ahnen der Neandertaler
Lange Zeit wurden all diese Fossilien in einer unklar definierten Gruppe, dem "archaischem Homo sapiens" zugeordnet, bis man sie schließlich unter dem Namen "Homo heidelbergensis", nach dem Unterkiefer in Mauer ins System der Hominiden, d.h. der Familie der menschlichen Vorfahren, einordnete. Diese neue biologische Spezies sollte die Ahnen der Neandertaler zusammenfassen.
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Früher europäischer Homo erectus?
Am Anfang der 90er Jahre wurden weitere Funde alter menschlicher Fossilien in Europa gemacht. In Bauarbeiten in der Nähe der italienischen Stadt Ceprano wurde eine Hirnschale gefunden, deren Alter zwischen 700 und 900.000 Jahren geschätzt wird. Aufgrund der extrem stark ausgebildeten Überaugenbrauenwülste, ein archaisches Merkmal, wird vermutet, dass es sich hierbei um einen Vertreter von Homo erectus handelt.
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Material nur spärlich vorhanden
Aus den Beschreibungen all dieser Funde werden die Probleme der paläoanthropologischen Forschung klar ersichtlich, nämlich, dass es sich bei den meisten menschlichen Fossilien oft um sehr spärliches Material handelt, vereinzelt und verstreut in ganz Europa, manchmal sehr schwierig bis unmöglich zu datieren und morphologisch sehr mannigfaltig.

Die systematische Bestimmung ist zusätzlich noch durch den fragmentarischen Zustand des Materials und mangels Kenntnis über die Variationsbreite dieser Menschenformen erschwert. Einen zufriedenstellenden und kontinuierlichen Fossilbeleg über die gesamte Zeitspanne des Pleistozäns zu finden, schien lange Zeit hoffnungslos.

Allerdings nur solange, bis zum Beginn der 90er Jahre Spanien, insbesondere das nordspanische Dorf Atapuerca, in den Mittelpunkt des internationalen Interesses der Evolutionsforschung des Menschen rückte.

Antonio Rosas und Markus Bastir.
Fortsetzung der Geschichte von den ersten Europäern:
Atapuerca und die ersten Europäer - Teil 2
Atapuerca und die ersten Europäer- Teil 3
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Antonio Rosas
Dr. Antonio Rosas arbeitet als Paläoanthropologe und Titularforscher am CSIC und ist Direktor der Abteilung für Paläobiologie am Museo Nacional de Ciencias Naturales in Madrid. Er ist weiters Gründungsmitglied der Forschungsgruppe Atapuerca und Leiter des Ausgrabungsorts Sima del Elefante.
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Markus Bastir
Mag. Markus Bastir studierte in Wien und Madrid Anthropologie. Er arbeitet gegenwärtig als Doktoratsstudent und Stipendiat an der Abteilung für Paläobiologie am Museo Nacional de Ciencias Naturales und an der Universidad Autónoma in Madrid. Er ist seit 1999 Mitarbeiter des Forschungsteams Atapuerca.
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->   Museo Nacional de Ciencias Naturales
 
 
 
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01.01.2010