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Digitale Medien vereinen Kunst und Alltag
Vordenker über die Entwicklung des Internets
 
  Seit den 1980er Jahren beschäftigt sich Jay David Bolter damit, wie digitale Medien Kultur und Alltag verändern. Seine Erwartungen, dass sich durch den Computer eine völlig neue Literaturform entwickelt, haben sich bis jetzt noch nicht erfüllt. Anlässlich eines Vortrags in Wien sprach der Forscher mit science.ORF.at über die Zukunft der Bücher, die Entwicklung des Medienmarktes und über den Künstler, den multimediale Aktivitäten in uns wecken.  
Bild: J.D. Bolter
science.ORF.at: Sie haben bereits 1990 in Ihrem Buch "Der digitale Faust" vorhergesagt, dass Philosophie und Literatur künftig unter elektronischer Kontrolle am PC entstehen würden. Sind Ihre Prognosen eingetreten?

Ich bin nicht sicher, ob meine Vorhersagen wirklich gestimmt haben. Das hängt davon ab, was man unter Literatur und Philosophie versteht. In den 1990er Jahren gab es eine richtige Euphorie: Man erwartete, dass sich Hypertext zu einer neuen Literaturform entwickeln und somit zu einem neuen philosophischen Diskurs führen würde. Diese Hoffnungen haben sich aber nicht erfüllt.

Einerseits hat Hypertext in Form des Internets einen unglaublichen Siegeszug gemacht, den damals niemand erwartet hätte. Andererseits ist Hypertext als Form des literarischen Ausdrucks bisher vernachlässigbar.

Die Menschen beginnen erst jetzt, Bücher über verschiedene elektronische Kanäle, wie beispielsweise Kindle oder Smartphones, zu lesen. Das Problem bei diesen Geräten ist der kleine Bildschirm, wegen dem der Text immer einer Art Manipulation unterliegt.

Was über diese Geräte gelesen wird, sind aber immer noch traditionelle Bücher. Es gibt sicher einen Einfluss des Computers auf die Literatur, aber es ist nicht absehbar, ob sich daraus auch wirklich eine neue Literaturform entwickeln wird.
Sie haben auch von einer elektronischen Kontrolle gesprochen. Was ist darunter zu verstehen?

Elektronische Kontrolle bedeutet heute für mich, dass der Leser Texte auf seinem Smartphone nicht nur liest, sondern sie auch mit Hilfe von Markierungen oder Anmerkungen bearbeitet, sie also gewissermaßen manipulieren kann.
Sterben die Schriftsteller aus, die ihre Werke noch auf der Schreibmaschine tippen?

Sie werden aussterben, allerdings in dem Sinne, dass es keine Schreibmaschinen mehr geben wird. Der springende Punkt ist aber: Verwenden bedeutende Autoren dann einfach ihren PC wie eine Schreibmaschine oder entwickelt sich etwas Neues?
Sie haben auch den Bezug des Internets zu den älteren Medienformen erforscht. Werden Zeitungen oder Magazine komplett verdrängt oder ergeben sich mehr Synergien?

Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. In den USA beispielsweise verlieren die Zeitungen massenhaft Leser. Deshalb müssen sie flexibel sein, sich auf die neue Situation einstellen und mit elektronischen Medien zusammenarbeiten. Die Menschen wollen sich heute vom Fernsehen nicht mehr nur berieseln lassen, sondern selbst (inter)aktiv teilnehmen können. Frühere Zuschauer können heute durch Youtube selbst zu Produzenten werden.

Das Bedürfnis der Menschen nach täglichen Informationen wird bestehen bleiben. Ob es in Print- oder elektronischer Form befriedigt wird, ist letztendlich auch eine Frage der kulturellen Entwicklung, die derzeit eher in Richtung Internet geht.
Die junge Generation wächst damit auf, dass sie im Internet alles gratis bekommt. Wird überhaupt noch jemand bereit sein, künftig etwas für mediale Inhalte zu bezahlen?

Man darf nicht vergessen, dass hinter jedem Internetangebot jemand steht, der dafür zahlt. Faszinierend ist eher, mit welchen Geschäftsfeldern Internetplattformen wie "Google" Geld verdienen. Da reicht es schon, Anzeigen geschickt auf seinen Seiten zu platzieren.

So wie es vor einigen Jahren einen Umbruch in der Plattenindustrie gegeben hat, sind jetzt eben auch Filmbranche und Fernsehen gefordert, kreativ zu sein und neue Einnahmequellen zu finden, für die der Endkunde bereit ist, zu zahlen.
Haben sich durch das Internet neue Kommunikationsformen entwickelt?

Zunächst muss man die Entstehung von "sozialen Medien" berücksichtigen, die kaum älter als ein paar Jahre ist. Dazu zählen beispielsweise Youtube, Wikipedia, Twitter, Flickr, Facebook.All diese Plattformen benutzen etablierte Technologien, um neue Formen der Partizipation zu entwickeln.

Im Endeffekt finden sich hier aber die alten Kommunikationsmuster. Blogs sind die neue Form des Briefeschreibens, Facebook ist das neue Tagebuch, die Videos auf Youtube gleichen Filmen, die wir seit Jahrzehnten aus dem Fernsehen kennen. Die "sozialen Medien" sind also gleichzeitig neu und vertraut. Das macht sie auch so erfolgreich.
Interaktive Spiele, sogenannte Alternate Reality Games, sind für Sie ein entscheidender Schritt, um Kunst in Alltag zu verwandeln. Soll da die Praxis ästhetisch oder die Kunst praktisch sein?

Alternate Reality Games sind deshalb so interessant, weil sie elektronische Kommunikationskanäle wie E-Mail und Webseiten mit herkömmlichen wie Telefon und Briefen verbinden. Sie vereinen also die virtuelle Welt mit unserer realen Umgebung. Für mich sind sie ein Vorreiter einer neuen Entwicklung. Sie sind die Schnittstelle zwischen Kunst, Unterhaltung und alltäglichem Leben.

Die ersten Alternate Reality Games, die einer größeren Öffentlichkeit bekannt waren, hießen "The beast" and "I love bees" Es verbarg sich ein Rätsel hinter ihnen, dass die eingeweihten User lösen sollten. Alternate Reality Games waren aber auch Teil einer ausgeklügelten Marketingstrategie für Videospiele oder Filme. Dieses Genre hat sich laufend weiterentwickelt.

Heute gibt es Hunderte von Alternate Reality Games, die von unzähligen Menschen gespielt werden. Manche haben immer noch Marketingcharakter, bei anderen hat sich eine Subkultur entwickelt. Es gibt mittlerweile auch welche mit sozialem Hintergrund: Eines simulierte beispielsweise eine Welt ohne Öl. Die Teilnehmer mussten sich alternative Energieformen überlegen. So gesehen hatte dieses Spiel auch einen großen Lerneffekt.


Im 20 Jahrhundert war avantgardistische Kunst einer kleinen Elite vorbehalten. Heutzutage gibt es beispielsweise Blitzaufläufe (Flashmobs) mit avantgardistischem Charakter, an denen jeder teilnehmen kann. Eine Aktionsform, bei denen Leute zusammenkommen, die sich vorher gar nicht gekannt haben. Die neuen Medientechnologien bringen also Kunst und alltägliche Praxis zusammen.

Nina Wolf, science.ORF.at, 22. 5.09
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Zur Person
Jay David Bolter ist Professor am Wesley Center for New Media des Georgia Institute of Technology in Atlanta. Er forscht zur kulturellen und sozialen Bedeutung digitaler Medien.
->   Jay David Bolter
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->   Hypertext (Wikipedia)
->   Alternate Reality Game (Wikipedia)
 
 
 
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01.01.2010