News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 
Hirnforschung: Bewusstsein? Energie!  
  Ein US-amerikanischer Neurowissenschaftler behauptet: Seine Fachkollegen hätten vor lauter bunten Hirnscans den Blick aufs Ganze verloren. Wer das Bewusstsein verstehen wolle, müsse den Energieverbrauch des Hirns berücksichtigen.  
Den Rahmen sprengen
Thomas Kuhn hat in seinem berühmten Buch The Structure of Scientific Revolutions zwei Arten von Forschung unterschieden: Normalwissenschaft, so schreibt er, reproduziert im Wesentlichen, was auch früher gedacht worden ist. Sie verfeinert und verbessert zwar Theorien bzw. Experimente, aber sie übernimmt den bisher üblichen Betrachtungsrahmen. Revolutionäre Wissenschaft hingegen weigert sich, die vorgegebene Perspektive zu akzeptieren. Sie betrachtet die Dinge von Grund auf neu, schafft, wenn man so will, eine andere Weltsicht.

Müsste man Robert G. Shulman von der Yale University auf einer Skala zwischen diesen beiden Forschertypen einordnen, dann wäre er wohl ziemlich nahe am revolutionären Pol. Zumindest kann er mit einer in der Neurowissenschaft üblichen Annahme wenig anfangen, die im Englischen "pure insertion" genannt wird. Dabei geht um die implizite Logik der meisten Versuche mit bildgebenden Verfahren.

Man misst zunächst die Hintergrundaktivität des Hirns, stellt dann Probanden vor irgendeine Aufgabe - beispielsweise eine Gedächtnisübung mit Bildern - und registriert etwaige Aktivitätsänderungen. Der Unterschied zwischen dem Vorher und Nachher wird dann gerne als sichtbar gemachtes Denken angesehen. Oder, wie es so schön heißt: als "Korrelat der Kognition".
Radikale Umkehr
"Mit diesem Ansatz stimmt zweierlei nicht", sagt Shulman. Erstens hätten Studien nachgewiesen, dass für Gedächtnistests oder Problemlösen nicht ein oder zwei Hirnareale notwendig sind, sondern viele. Wolle man bewusstes Denken untersuchen, sei die diese Vorgehensweise der falsche Weg - nicht zuletzt dehalb, weil einander die aktiven Regionen gegenseitig beeinflussen würden. So simpel, wie es die Arithmetik des Vorher/Nacher nahelege, gehe es im Hirn nicht zu.

Man könnte es auch so ausdrücken: Bildgebende Verfahren produzieren Landkarten des Hirns, in denen lokale Ereignisse die Hauptrolle spielen. Womöglich lässt sich ein Zustand wie Bewusstsein auf diese Weise gar nicht vollständig einfangen, weil die globalen Erregungswellen in den Nervennetzen eben eine umfassendere Betrachtungsweise brauchen, jedenfalls keine Stecknadelgeografie.
"Nur die Spitze des Eisberges"
Und zweitens, betont Shulman, sei die Menge an Energie, die auf das Konto der "pure insertion" fällt, sehr gering - nämlich lediglich ein Prozent des Gesamtumsatzes. "Das Neuroimaging hat bisher nur die Spitze des Eisbergs betrachtet. Wir schauen nun auf den ganzen Rest." Wie Shulman und sein Team im Fachblatt "PNAS" zeigen, haben anästhesierte, bewusstlose Menschen im Hirn einen um die Hälfte reduzierten Energieverbrauch. "Ohne hohen Energieumsatz im Hirn entsteht auch kein Bewusstsein", so Shulman.

Was passiert, wenn das Anästhetikum langsam ins Gehirn "einsickert" und der Energieumsatz zurückgeht, haben die US-Forscher dann bei Ratten genauer untersucht. Bewusstlosigkeit zeichnet sich demnach durch zwei Kennzeichen aus: Erstens brechen großräumige Muster in der Hirnaktivität zusammen, außerdem sind die Erregungswellen in der Hirnrinde deutlich verlangsamt. Bei wachen Ratten oszillieren sie mit bis zu 40 Hertz, im unbewussten Zustand hingegen nur mehr mit zehn.
Die Welle des Bewusstseins
Das ist insofern interessant, als den 40-Hertz-Oszillationen beim Menschen große Dinge nachgesagt werden. Der kolumbianische Neurologe Rodolfo R. Llinás etwa vermutet, bei den synchronen Wellen handle es sich um das "das Substrat des Selbst". Der 2004 verstorbene Nobelpreisträger Francis Crick und sein Kollege Christof Koch wiederum haben die Vermutung geäußert, sie würden die verschiedenen Sinnesempfindungen bündeln - und somit die "Einheit des Bewusstseins" erschaffen.
Loblied auf den Holismus
Auch Robert G. Shulman geht aufs große Ganze. Er votiert in seiner Arbeit für einen neuen, erweiterten Betrachtungsrahmen: "Bewusstsein ist eigentlich keine Eigenschaft des Gehirns, sondern der ganzen Person", sagt er. Mentale Prozesse könnte ohne Körper gar nicht funktionieren, weil Hirn und Körper andauernd kommunizieren, Signale und Substanzen austauschen würden.

So gesehen sei der methodische Schnitt, den Neurowissenschaftler zwischen dem Hirn und dem Rest des Körpers setzen, willkürlich und für die Forschung gar hemmend. "Eine Person rechnet, fühlt Schmerzen oder entscheidet zu heiraten, nicht das Gehirn", schreibt Shulman. "Dieser Interpretation zufolge mag die Hirnaktivität zwar notwendig sein, um das Verhalten einer Person zu erklären. Aber hinreichend ist sie nicht."

Robert Czepel, science.ORF.at, 22.6.09
->   Robert G. Shulman
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Wie kommt das Unbewusste in die Maschine?
->   Der automatische Kalorienzähler im Gehirn
->   Blinder Mann kann Hindernisse "sehen"
->   Unbewusste Reize machen Lust auf Drogen
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010