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Recht auf Faulheit?  
  Sind Arbeitslose "selber schuld" an ihrem Schicksal? Oder ist die Rede vom "Recht auf Faulheit", das sie vermeintlich in Anspruch nehmen, selbst Ausdruck intellektuellen Müßiggangs? Sozialwissenschaftler fanden bei vergangenen "Faulheits"-Debatten eine Reihe erstaunlicher Gemeinsamkeiten - und schlagen Alternativstrategien für die Belebung des Arbeitsmarkts vor.  
Arbeitslose als Sündenböcke
"Faulheit ist die Furcht vor bevorstehender Arbeit" - so zitieren die Forscher in ihrer Studie einleitend Ciceros "Tusculanae". Und geben dem großen römischen Redner und Philosophen doch nicht recht.

Arbeitslose müssen im Gegenteil oft als "Sündenböcke für eine zum Teil verfehlte oder zu zögerliche Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik herhalten".

"Faulheit" bzw. das, was darunter in den Debatten um Arbeitslosigkeit und ihre Ursachen verstanden wird, hat für das Berliner Wissenschaftsteam mehr mit politischem Kalkül und strukturellen Defiziten zu tun. Und weniger mit individuellen Eigenschaften.
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Der Arbeitsmarktforscher Günther Schmid und seine Mitarbeiter Frank Oschmiansky und Silke Kull vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) untersuchten in ihrer Studie "Faule Arbeitslose? Politische Konjunkturen einer Debatte" die Geschichte der vier größeren "Faulheits"-Debatten, die sich seit den 70er Jahren in Deutschland nachweisen lassen.
->   Die Studie als pdf-Datei
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Faulheits-Debatte mit Konjunktur
Anfang April trat der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder eine landesweite Diskussion vom Zaum. In der "Bild"-Zeitung wurde er mit den danach heftig diskutierten Worten zitiert: "Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft."

Das Wissenschaftlerteam aus Berlin hält diese Aussage für keinen Zufall. Immer dann, wenn Rezessionen drohen oder landesweite Wahlkämpfe bevorstehen - so ihre These - häufen sich derartige Debatten.
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Vier "Faulheits-Debatten" seit 1975
Die Wissenschaftler stießen auf vier große "Faulheitsdebatten" in Deutschland: die erste ausgelöst unter dem Stichwort "Wildwüchse beschneiden" durch den sozialdemokratischen Bundesarbeitsminister Walter Arendt 1975. Die zweite fand 1981 statt, die dritte 1993 (Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl: "Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, dass wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren") - plus die in diesem Frühjahr mit den Schröder-Worten begonnene.
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Gemeinsamkeiten: Arbeitslosigkeit, Wahlkämpfe
Bei allen diesen Debatten fanden die Wissenschaftler Gemeinsamkeiten:

Zum ersten wurden sie zumeist etwa ein bis eineinhalb Jahre vor landesweiten Wahlen initiiert.

Zum zweiten fielen sie in Zeiten hoher oder politisch bedrohlicher Arbeitslosigkeit.

Und zum dritten stimmte in Meinungsumfragen ein vergleichsweise hoher Prozentsatz der Bevölkerung der Aussage zu, wonach "viele Arbeitslose gar nicht arbeiten wollten". Nach einer aktuellen Studie sind dies in im Westen Deutschlands 66 Prozent, im Osten 40 Prozent.
Sanktionen bei Fehlverhalten
Die Wissenschaftler analysierten im internationalen Vergleich auch die Sanktionen bei Fehlverhalten ("Sperrzeiten") im Umgang mit Arbeitslosenunterstützung, durch die Arbeitslose kein Geld bekommen.

Zumindest drei der Debatten waren mit sinkenden Sperrzeitenquoten verbunden und führten zu einer Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln für Arbeitssuchende.
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Österreich: 30.000 Arbeitslosen-Sanktionen
Auch in Österreich läuft derzeit eine Diskussion um schärfere Zumutbarkeitsbestimmungen für Langzeitarbeitslose. Nach Angaben des Arbeitsmarktservice hat es alleine im ersten Halbjahr 2001 30.000 Sanktionen - d.h. Einstellung der Zahlungen - gegeben. Im Jahr 2000 waren es insgesamt 55.000 Sanktionen.
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"Situationsgerechte Nadelstiche"
Für den Umgang mit Sanktionsmechanismen bei der Arbeitslosenunterstützung empfehlen die Wissenschaftler des WZB, den Arbeitsvermittlern ein flexibleres Instrumentarium an die Hand zu geben. Günther Schmid: "Situationsgerechte 'Nadelstiche' sind wirkungsvoller als die Drohung mit der 'Keule' einschneidender Kürzungen".
Positive Anreize effektiver
Die Analyse ergab, dass positive Anreize effektiver sind.

Konkrete Vorschläge: Arbeitslosen sollen eigene Entscheidungsspielräume über die Maßnahmen erhalten, die sie für sich selber geeignet halten. Zum Beispiel das Recht, Lohnersatzleistungen in eine Lohnsubvention umzuwandeln, wenn sie etwa eine Teilzeit- statt einer Vollzeitstelle akzeptieren.

Auch die Unternehmen sollten eine aktivere Rolle bei der Arbeitsvermittlung spielen, beispielsweise indem auch sie Vereinbarungen über Stellenvermittlungen mit der Arbeitsverwaltung treffen und sich darin verpflichten, die offenen Stellen früher und im Anforderungsprofil wesentlich präziser zu melden.
Recht auf Freiheit im Erwerbsleben
Die Wissenschaftler resümierend in ihrer Studie: "Was wir brauchen, ist eine Politik der Befähigung und Ermutigung - keine Politik der Bestrafung und Entmutigung. In der Tat: Es gibt kein Recht auf Faulheit, aber ein Recht auf mehr Freiheit im Erwerbsleben."

Lukas Wieselberg, science.orf.at
->   Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
 
 
 
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01.01.2010