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Flexible Zellstrukturen: Fest und elastisch  
  Eine neue Untersuchung konnte jetzt zeigen, warum das 'Skelett' von Zellen gleichzeitig fest und elastisch sein kann. Daraus versprechen sich die Forscher ein besseres Verständnis von Krankheitsverläufen und Medikamentenwirkung auf Zellebene.  
Von diesen Erkenntnissen berichten Ben Fabry von der Harvard School of Public Health in Boston, USA, und Kollegen in der aktuellen Ausgabe der "Physical Review Letters".

Zellen werden von ihrem "Zellskelett", einem Netzwerk aus Proteinen innerhalb der Zelle, intakt und zusammengehalten. Die Flexibilität von Zellstrukturen ermöglicht etwa, dass Blut fließen kann und Wunden heilen, aber auch, dass Krebs sich ausbreiten kann.
->   Originalartikel in den "Physical Review Letters" (kostenpflichtig)
Gemessene Belastungen und Elastizität
Die Wissenschaftler analysierten, wie sich ein Zellskelett unter einer Reihe verschiedener Belastungen verformt und reagiert. Sie versahen Zellskelette mit winzigen, kugelförmigen Magneten und setzten diese Skelette dann einem sich verändernden Magnetfeld aus.

Die Forscher waren über die gemessenen Ergebnisse überrascht: Das Zellskelett behielt unter "Normalbedingungen" seine Festigkeit, passte sich aber augenblicklich und mühelos veränderten Bedingungen und Belastungen von außen mittels seiner Elastizität an.
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Was ist das Zellskelett
Höhere Zellen sind von einem komplizierten Netz von Proteinsträngen durchzogen, dem Zell- oder Cytoskelett. Es gibt den Zellen ihre charakteristische Form, außerdem ist es für Zellbewegungen sowie für den Molekültransport über lange Strecken innerhalb der Zellen unerlässlich. Eine Sorte dieser zellulären Strukturelemente, die als Intermediärfilamente bezeichneten Proteinstränge mit mittlerem Durchmesser, haben sich anscheinend erst mit der Evolution der Tiere entwickelt. Beim Menschen gibt es 60 verschiedene Formen von Intermediärfilamenten, die jeweils in unterschiedlichen Geweben vorkommen. Sie sind von großer diagnostischer Bedeutung, weil man mit ihrer Hilfe die Gewebespezifität und damit die Herkunft von Tumorzellen bestimmen kann.
->   Mehr zu Zellskeletten
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Bei einer Reihe von Zellen
Dieses Ergebnis konnten die Forscher bei einer ganzen Reihe von Zellen feststellen; das Team testete menschliche Blutzellen, Lungen- und Rachenzellen sowie Zellen von Mäusen.

Überraschend war für sie auch, dass möglicherweise Ideen aus unterschiedlichen Wissenschafts-Bereichen diese Konsistenz der Ergebnisse erklären könnten. Denn sie erklären die Eigenschaften der Zellen mit einem mathematischen Modell.
Hinweise aus der Statik?
Bauingenieure arbeiten schon länger mit einem mathematischen Modell namens "struktureller Dämpfung", um zu erklären, wie Gebäude und Flugzeuge vibrieren. Die mathematische Beschreibung der "strukturellen Dämpfung" passt laut Ben Fabry direkt zum Verhalten des Zell-Skeletts.

Die selben mathematischen Modelle wurden in jüngerer Zeit auch schon auf andere, zum Teil recht skurrile Phänomene übertragen, wie etwa das "Verhalten" von Zahnpasta oder Seifenschaum unter unterschiedlichen Bedingungen. Alles Materialien, die auch unter der Bezeichnung "soft glassy materials" (SGM) laufen.
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Was ist (strukturelle) Dämpfung?
die Abschwächung beliebiger Schwingungsvorgänge durch dauernden Energieverlust; bei mechanischen Schwingungen z. B. durch Reibung oder Luftwiderstand bedingt, bei elektrischen Schwingungen durch den Ohm'schen Widerstand der Leitungen oder Verluste in der Isolation. Die in elastischen Strukturen verwendeten Materialien verfügen häufig nur über eine sehr geringe strukturelle Dämpfung. Dem zufolge weisen die hier auftretenden Schwingungen hohe Amplituden und lange "Ausschwing-Zeiten" auf, die die Funktion des betreffenden Systems stark beeinträchtigen oder gar zu Instabilitäten führen können. Bei den steigenden Anforderungen an die Leistungsfähigkeit und die Optimierung technischer Systeme erlangen diese Schwingungsprobleme immer stärkere Bedeutung.
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Weiter gehende Ähnlichkeiten?
Ob die Ähnlichkeiten von Zellskeletten, Gebäuden, Flugzeugen und Zahnpasta über den mathematischen Kontext hinaus gehen, ist bislang unter Wissenschaftlern noch umstritten.

"Die SGM-Theorie ist zwar eher allgemein gehalten, aber ihre breite Anwendbarkeit sollte einige fundamentale Eigenschaften des jeweiligen Systems erkennen lassen", gibt sich Studienleiter Fabry zuversichtlich.
Zweifel bei Kollegen
Leise Zweifel kommen bei einem Kollegen von Fabry, Peter Scollich vom Kings College in London auf. Die Übertragbarkeit der "strukturellen Dämpfung" auf Zellskelette ist für ihn im Moment nur vorläufig.

Interessant wäre für den Londoner Forscher eine Untersuchung, die das Verhalten von Zellskeletten unter wesentlich größeren Belastungen analysiert.
Medizinisches Potenzial
Trotz der Zweifel glaubt Farby, dass die vorliegenden Ergebnisse eine Vereinfachung und einen Vergleich der Effekte von Medikamenten auf das Skelett von Zellen ermöglichen.

Das wäre von nicht geringer Bedeutung für ein erweitertes Verständnis dessen, was sich auf zellulärer Ebene bei der Interaktion von Zellen und Medikamenten detailliert abspielt.

Fabrys Forschungsgruppe konzentriert sich im speziellen darauf, wie Asthma die Kontraktion und das Verhalten von Zellen der Atemorgane beeinflusst und wie in diesem Fall die jetzt beobachtete Flexibilität der Zellskelette neue Erkenntnisse liefern kann.
->   Die Anwendung von Magneten an Zellskeletten
->   Physiology Programm der Harvard School of Public Health
 
 
 
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01.01.2010