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Eröffnung der Salzburger Humanismusgespräche  
  "Informiert bis zur Bewusstlosigkeit? Humanismus und Aufklärung in der neuen Medienvielfalt" ist das Thema der 25. Salzburger Humanismusgespräche. Was bedeutet die Allgegewart von Information? Kann Information Wissen und Bildung ersetzen? Diesen Fragen ging zum Auftakt der Veranstaltung eine Podiumsdiskussion nach.  
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25. Salzburger Humanismusgespräche
Die Veranstaltung wurde gestern von Staatssekretär Franz Morak in der Salzburger Residenz eröffnet. Am Beginn standen Statements vom Salzburger Landeshauptmann Franz Schausberger, Hörfunkintendant Manfred Jochum, der die Humanismusgespräche moderiert und dem Salzburger Landesintendanten Friedrich Urban. Heute wird die Tagung um 9.00 Uhr im Palais Kuenburg fortgesetzt. Zur Einführung bringt science.orf.at in leicht gekürzter Form das Statement von ORF-Wissenschaftssprecher und Hörfunkintendant Manfred Jochum:
->   Mehr über das Salzburger Humanismusgespräch
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Humanismus: Eine abgelaufene Ära?
Von Manfred Jochum

Unzweifelhaft steht das Thema des diesjährigen Salzburger Humanismusgesprächs unter der düsteren Diagnose Peter Sloterdijks, die Ära des neuzeitlichen Humanismus sei abgelaufen, weil sich die Illusion nicht länger halten ließe, politische und ökonomische Großstrukturen "könnten nach dem amiablen Modell der literarischen Gesellschaft organisiert werden.

"Die alltägliche Bestialisierung der Menschen in den Medien der enthemmenden Unterhaltung nimmt zu" so Sloterdijk, die "Entwilderung des Menschen" ist gescheitert und die "Zukunft der Humanität" ist bei den alten "Humanisierungsmedien" in schlechten Händen.
Das krumme Holz der Humanität
Wenn aber das "krumme Holz der Humanität" nur mehr für ein Museum der Aufklärung taugt und Humanismus tatsächlich immer nur Teil jenes Gewaltproblems war und ist, als dessen Lösung er sich ausgibt, dann kommt das 25. Salzburger Humanismusgespräch entweder zu spät, oder es zeugt von einiger Tollkühnheit und unerschütterlicher Standhaftigkeit, sich dennoch und gerade jetzt wieder diesem Thema zu nähern.
Wissensgesellschaft als Schimäre
Die multimedial bestimmte Informationsgesellschaft, die sich angeblich auf dem Weg zu einer Bildungs- und Wissensgesellschaft befindet, ist eine Schimäre.
Konnte man noch bis in die Sechziger-Jahre die illusionäre Hoffnung haben, die elektronischen Medien würden wesentlich zu einer humanen Bildungs- und Wissensgesellschaft beitragen, den aufgeklärten Bürger ermöglichen, so sind diese Hoffnungen längst geschwunden. Auch die neuen Medien haben diesen Prozess nicht gefördert.
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Information: Gut oder Ware?
Wir reden von einer Informationsgesellschaft und haben Information noch nicht definiert: Ist sie ein Gut oder eine Ware?
Der Zweck der Ware wäre ihre Verkäuflichkeit, jener des Gutes sein Inhalt.
- Wir reden von einer Kommunikationsgesellschaft und verstehen darunter zunehmend die Kommunikation von und mit Maschinen.
- Wir reden vom Ziel einer Wissensgesellschaft, und verstehen darunter all zu oft ein Wissen, das abrufbar in Datenbanken ruht, permanent verfügbar ist, aber nur für diejenigen, die in der Lage sind, es abzurufen.
- Wir reden von einer Bildungsgesellschaft und sind zunehmend bereit, nicht nur alle wissenschaftlichen Befunde von der Gleichgewichtigkeit sozialen, emotionalen und kognitiven Lernens über Bord zu werfen, sondern die Bildungsinhalte nahezu ausschließlich über wirtschaftliche Notwendigkeiten zu definieren.
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Falsche Metaphern
Wir leben also nur scheinbar in einer Informations-, Wissens-, Bildungs- und Kommunikationsgesellschaft, und müssen zunehmend erkennen, dass alle diese Metaphern in ihrer Ausschließlichkeit zwar populär, aber falsch sind.

Warum reden wir nie von einer Gesellschaft, die Erkenntnis befördern soll? Die Wahres von Unwahrem, Richtiges von Falschem, Wichtiges von Unwichtigem scheidet?
Warum reden wir nie von einer Gesellschaft, die den Luxus der Nachdenklichkeit und des Nachdenkens bewusst fördert.
Selektion ist entscheidend
Spätestens seit Niklas Luhmann ist es ja eine Binsenweisheit, dass in einer Gesellschaft, die immer mehr medial bestimmt ist, es zunehmend nicht mehr um die Anlieferung von immer mehr Information, sondern um Prozesse der Selektion und damit um die angemessene Reaktion auf den Überschuss von Information geht.
Humanismus und Aufklärung
Weiters um eine kritische Analyse der Begriffe Information, Kommunikation, Wissen und Bildung und ihre entsprechende Differenzierung auch unter den Stichworten "Humanismus und Aufklärung". Und das alles vor dem Hintergrund einer sogenannten "e-world", einer "Netzwelt", die uns - und das entspricht dem mainstream-Denken - nicht nur eine neue Qualität der Demokratie, sondern auch unbegrenzte Wissenszugänge und ungehemmtes Wirtschaftswachstum verspricht.
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Aufgeklärte Skepsis
Ich nähere mich dieser Welt im Unterschied zu den heute in Fülle auftretenden "e-Euphorikern" oder "@-Euphorikern" eher mit Nachdenklichkeit, und würde meine Position als die eines "aufgeklärten Skeptikers"¿ bezeichnen.
Diese Position entspricht nicht dem "mainstream", sie ist derzeit auch nicht mehrheitsfähig, sie ist dennoch - wie ich meine - wichtig.
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Gedanklich innehalten
Wir sind an tägliche Informationen gewöhnt, dennoch sollte man einmal gedanklich innehalten und sich die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit vor Augen führen, dass gerade dann, wenn man Informationen mit der Vorstellung des Überraschenden, Neuen, Interessanten, Mitteilungswürdigen, Wissenswertem, verbindet, es doch viel näher läge, nicht täglich und stündlich im gleichen Format zu berichten, sondern darauf zu warten, dass wirklich etwas geschieht, das dann bekannt gemacht werden kann und muss. Statt dessen geschieht das Gegenteil: In der Welt passiert so viel, wie in die Medien hineinpasst.
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Eigendynamik der Systeme
Allerdings: das hat bisher gegolten, und gilt nicht mehr für die neuen Medien, deren Speicherkapazität praktisch unbegrenzt ist.
Jetzt trifft uns Information wahllos, richtet sich an niemand Bestimmten und wird zur Handelsware. Gerade das zwingt Massenmedien dazu, durch ständig neue Information, die Gesellschaft wach zu halten. Insofern passen die Massenmedien zu der beschleunigten Eigendynamik anderer Funktionssysteme, wie Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, auch Kultur und Sport, die die Gesellschaft ebenfalls ständig mit neuen Problemen und neuen Fragestellungen konfrontieren.
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Kurz, schnell und banal
Und weil sich auch die "klassischen Medien" an dieser neuen Situation orientieren, werden sie einander immer ähnlicher und unspezifischer. Der überwiegende Teil der Wochenzeitungen und Magazine gleicht gedruckten Videoclips. Bunt, kurz, schnell, wenig Text - beeindruckend banal.

Der überwiegende Teil der Radioprogramme hat seine Wortanteile auf maximal 90 Sekunden pro Einheit gekürzt. Worthäppchen in einer Einheitsmusiksoße. Fernsehen wird zunehmend zum Unterhaltungsmedium, das den Proponenten von Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst bestimmte Rollen zuteilt.
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"Gesetz des ausgeschlossenen Geschmacks"
Das Laute, Schrille und Bunte, das Grelle, Geschmacklose und Banale, auch das Obszöne und Gemeine, der Skandal und die moralische Empörung sind wesentlicher "Stof"¿ zur Befriedigung atavistischer Bedürfnisse. Und dieser "Stoff" ist mehrheitsfähig.
Fast könnte man meinen, der Wettlauf um die Befriedigung faktischer Bedürfnisse endet bei den niedersten Bedürfnissen.
Jürgen Mittelstraß spricht vom "Gesetz des ausgeschlossenen Geschmacks", der zunehmend Auflagenhöhe und Quote garantiert.
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Mehr Wissen?
Führt all das zu mehr Wissen, zur Erkenntnis gar? Natürlich nicht: denn die menschliche Psyche ist eben kein Datenspeicher, in dem man unbegrenzte Mengen jeglicher "Information" füllen kann. Sie hat ihre Grenzen in ihrer Verarbeitungskapazität, die sich sowohl an der Quantität als auch an der Qualität des Dargebotenen bemisst.
Beschleunigungsdruck
Und deshalb haben wir ja nicht nur mit der Fülle von Informationen unsere Probleme, sondern auch mit der Geschwindigkeit. Und Beschleunigung ist eines der Wesensmerkmale unserer Gesellschaft. In der Information erzeugt der Zwang zur Aktualität einen Beschleunigungsdruck, dem man nur mehr gewachsen zu sein glaubt, wenn man auf Inhalte verzichtet.

Denn Inhalte sind Gedanken und Gedanken brauchen Zeit, sich zu entwickeln. In der "e-world" zählt aber Geschwindigkeit mehr als Argumente.
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Der richtige Kopf vor dem Bildschirm
Erst kürzlich hat diese Problematik der Wissenschaftstheoretiker und Philosoph Jürgen Mittelstraß, formuliert:: "Der Nutzer und Anwender des Mediums Information muss wissen, worauf er sich einlässt. Nicht, indem er den modernen Informationstechnologien misstraut, sondern indem er Informationen mit eigenem Wissen verbindet. Vor dem Bildschirm hat es keinen Sinn, Skeptiker zu spielen, nur sollte der richtige Kopf vor dem Bildschirm sitzen".
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Ein Abschied ?
Müssen wir uns also von einem Glaubensgrundsatz europäisch-abendländischen Denkens verabschieden, der weit in das 20. Jahrhundert hereinreichte und lautete: Bildung und Wissen, Humanismus und Aufklärung sind unabdingbar miteinander verbunden?

Gilt diese Regel nicht mehr, dann ist Optimismus in die Zukunft einer Wissens- und Bildungsgesellschaft auch im Sinne einer sogenannten "neuen" Aufklärung groß angelegter Selbstbetrug.
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Bildung als Bürgerrecht
Ist das das Ende der Geschichte und unser 25. Salzburger Humanismusgespräch ein nostalgisch müder Abgesang auf eine mehr als 200 Jahre alte bürgerliche Forderung, die ja nur deshalb noch immer so revolutionär klingt, weil sie bis heute nicht eingelöst wurde: "Bildung als Bürgerrecht?"
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Von der Wahrnehmung zum Verstehen
Wir können nicht aus der Medienevolution aussteigen. Könnte es aber nicht auch sein, dass der Weg von der Mediengesellschaft in die so sehr erhoffte Wissens- und Bildungsgesellschaft eigentlich ein ganz anderer ist: der von der Information zur Bedeutung, von der Wahrnehmung zum Verstehen, von der Erkenntnis zum Urteil.
Medienkompetenz
"Medienkompetenz" - auch so ein Zauberwort der modernen Pädagogik - ist wesentlich mehr, als den Computer zu bedienen und den Videorecorder zu programmieren. Medienkompetenz heißt, in den Medien erkennen, was Wert hat, Sinn ergibt und wichtig ist.
Weglassen können
Und das bedeutet im Umkehrschluss: Ausblenden, Weglassen, auch Verweigern. "Im Treibsand der Informationen, die Goldkörner der Bedeutung herausfinden", wie es der Präsident der deutschen Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl formuliert. Oder noch radikaler von Erwin Chargaff: Es gibt auch ein Bürgerrecht auf Informationsverweigerung.
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Dazu allerdings bedarf es des gebildeten Bürgers - wir kommen um diesen Begriff auch in der Mediengesellschaft nicht herum.
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Die künftige Wissensgesellschaft
Von da her muss eine künftige Wissensgesellschaft zuerst und neuerlich über einen klaren Wissensbegriff verfügen, und ihn vom Informationsbegriff trennen.

Verstand als Ausdruck eines Verfügungswissens und Vernunft als Ausdruck einer Orientierungskompetenz sind seine wesentlichsten Parameter. In den Medien, inklusive den neuen, steckt nur so viel Vernunft, wie wir in sie hineinstecken. Vernunft allerdings ist eines der weiterhin uneingelösten Versprechen der Aufklärung. Ist es vernünftig, seine Einlösung gerade jetzt, heute und hier zu erwarten?
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In der Sendereihe "Salzburger Nachtstudio" ist am Mittwoch dem 3. 10. um 21.00 Uhr im Programm Österreich 1 ein Bericht von den Salzburger Humanismusgesprächen zu hören.
->   Radio Österreich 1
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Mehr von den Salzburger Humanismusgesprächen in science.orf.at:
->   Norbert Bolz: "Informieren wir uns zu Tode?"
 
 
 
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01.01.2010