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Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Norbert Bolz: "Informieren wir uns zu Tode?"  
  Der Medientheoretiker Norbert Bolz sprach am Donnerstag bei den 25. Salzburger Humanismusgesprächen, die zum Thema "Informiert bis zur Bewusstlosigkeit? Humanismus und Aufklärung in der neuen Medienvielfalt" stattfinden. Sein Vortrag spürt dem Stellenwert und Verhältnis von "Information" und "Wissen" in der modernen Multimedia-Gesellschaft nach.  
Originalbeitrag Norbert Bolz: I. Das Wissen der Gesellschaft
Es gibt ein Unbehagen an der Selbstbeschreibung unserer Kultur als "Informationsgesellschaft". Das wäre ja eine Gesellschaft, die nicht mehr von Prozessen der Materie und Energie, sondern von Unterschieden, letztlich Sequenzen von 0 und 1, angetrieben würde. Dann würde alles Wesentliche an Handgreiflichkeit verlieren.
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25. Salzburger Humanismusgespräche
Die Veranstaltung wurde gestern von Staatssekretär Franz Morak in der Salzburger Residenz eröffnet. Am Beginn standen Statements vom Salzburger Landeshauptmann Franz Schausberger, Hörfunkintendant Manfred Jochum, der die Humanismusgespräche moderiert und dem Salzburger Landesintendanten Friedrich Urban. Heute wird die Tagung ab 9.00 Uhr im Palais Kuenburg fortgesetzt.
->   Mehr über das Salzburger Humanismusgespräch
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Magische Formel "Informationsgesellschaft"
Wer heute von Wissensgesellschaft redet, artikuliert also ein Ungenügen an der modischen Formel von der Informationsgesellschaft. Information unterscheidet nicht zwischen Sinn und Unsinn. Sie ist kein Maß für den Wert einer Botschaft.
Information als " enemy of intelligence"
Der amerikanische Dichter Donald Hall kann deshalb sagen: "Information is the enemy of intelligence." Unter dem Druck neuer Informationstechnologien neigt man dazu, alle Probleme als Probleme des Nichtwissens zu deuten. Doch Sinnfragen lassen sich nicht mit Informationen beantworten: "The problem is confusion, not ignorance." (Karl Weick)
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Norbert Bolz
Norbert Bolz ist Universitätsprofessor für Kommunikationstheorie am Institut für Kunst- und Designwissenschaften der Universität GH Essen. Seine Arbeitsschwerpunkte und Lehrgebiet: Medientheorie, Kommunikationstheorie und Designwissenschaft.
->   Homepage Norbert Bolz
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Keine Zeit zum Nachdenken
Informationsübertragung hat nur sehr wenig mit dem zu tun, was menschliche Kommunikation ausmacht. Hinzu kommt, dass die "Instantaneität" der Datenprozesse uns keine Zeit des Nachdenkens mehr einräumt.
Wissen ist nötig, um Information zu nutzen
Man könnte sagen: "Instantaneität" entmutigt die Reflexivität. Um Informationen nutzen (und: genießen) zu können, braucht man Vorinformationen: das Wissen der Kultur, die Redundanz der Bildung.
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Vorsprungswissen ist Macht
Daniel Bell hat über die postindustrielle Gesellschaft gesagt: "Theoretisches Wissen ist zur Matrix der Innovation geworden." Eine naheliegende, aber zu simple Lesart dieses Satzes würde lauten: Wissen ist Macht. Die Formel macht erst Sinn, wenn man den gemeinten Sachverhalt temporalisiert. Nicht Wissen ist Macht, denn Wissen ist universal. Aber Vorsprungswissen ist Macht. Effektives Wissen hat heute einen Zeitindex.
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Wissensgesellschaft - "grenzenlos" optimistisch
Die Rede von der Wissensgesellschaft ist - im wortwörtlichen Sinn: "grenzenlos" optimistisch. Denn Wissen ist die Ressource, die sich scheinbar nie erschöpft - ja die sich durch Gebrauch sogar vermehrt.

Die traditionellen Produktivitätsfaktoren (Grundbesitz, Kapital, Arbeit) sind demgegenüber heute nur noch "constraints" der einzigen Wohlstandsquelle: Wissen. Je wichtiger die Produktivkraft Intelligenz wird, desto mehr konvergieren Wirtschaft und Bildung.
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Produktivität der geistigen Arbeit
Jetzt wird erst eigentlich die Produktivität der geistigen Arbeit entdeckt. Die Wirtschaft des Unsichtbaren hat es vor allen Dingen auch mit unsichtbaren Kosten zu tun:

- Forschung und Entwicklung
- Lizenzen, Patente
- Marketing, Service.

All das sind Formen des Wissens. Robert B. Reich, der ehemalige Arbeitsminister der USA, spricht in diesem Zusammenhang von symbolanalytischen Dienstleistungen; gemeint ist der Service des Sinns, den Leute bieten, die mit Problemen handeln und Daten manipulieren.

Der Job der Info-Elite besteht im Wissensdesign. Und der Begriff Info-Mapping signalisiert in diesem Zusammenhang, dass es heute v.a. darum geht, zu wissen, wo das Wissen ist. Das Zugangsproblem hat sich von den Gütern auf das Wissen verschoben.
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Je mehr man gelernt hat, ...
Je mehr man gelernt hat, um so mehr muss man noch lernen. In der Moderne machen wir die enttäuschende Erfahrung, dass die Wissenschaft die Unwissenheit erweitert. Mit den präzisen Worten von Daniel Bell: "More and more we know less and less."

Je mehr einige Leute wissen, desto ignoranter wird der Rest. Wer Zukunftssicherheit will, muss hohe Fremdselektion akzeptieren - das Unternehmen, in dem er arbeiten möchte, kann vorschreiben, was er zu lernen hat.

Individualität durch Selbstselektion heißt demgegenüber: Unsicherheit auf dem Markt - ich bestimme selbst, was ich lernen und wissen will, riskiere aber damit, mich am Markt vorbei zu qualifizieren.
Mehr Information, geringere Akzeptanz
Diesem Problem ist nicht durch ein Mehr an Information beizukommen - im Gegenteil. Je mehr Information, desto größer die Unsicherheit und desto geringer die Akzeptanz.
Kompensation durch Vertrauen
So zwingt uns die moderne Welt zur Kompensation des steigenden Nichtwissens durch Vertrauen - und Vertrauen heißt ja, die Information, die man von oder über jemanden hat, zu überziehen.

Vor allem vertraut man dem Selbstvertrauen der Experten, also jener wenigen, die in dem Maße mehr wissen, als wir ignoranter werden.
Nötigung zum "Black Boxing"
Neben die Nötigung zum Vertrauen in das Wissen anderer tritt die Nötigung zum "Black Boxing" des eigenen Wissens. Ich ziele mit dieser Formulierung auf eine Unterscheidung zwischen Strukturwissen und Funktionswissen, also zwischen Erkenntnis und Know-how.

Sich auf eine Sache zu verstehen, heißt nämlich noch nicht: eine Sache zu verstehen. Nun gilt für unsere moderne Welt: Es wächst das Wissen, das man nicht versteht und doch benutzen muss. Der Arbeitsteilung entspricht also eine Wissensteilung.
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Big Bang des Wissens
Dass es heute mehr lebende als tote Wissenschaftler gibt, ist der prägnanteste Ausdruck für den Big Bang des Wissens, der unsere postindustrielle Gesellschaft von allen früheren Gesellschaftsformationen trennt.

Und kompensatorisch zur Wissensexplosion hat dann die Einfachheit und Naivität der Weisheit Konjunktur. "Where is the wisdom we have lost in knowledge? Where is the knowledge we have lost in information?", fragt T.S.Eliot in seinem Gedicht "The Rock". Diese schön formulierte Naivität macht deutlich, dass sich die Wissensgesellschaft in einer Zeit des Wissensüberdrusses formiert, den man nur aus der Tatsache heraus verstehen kann, dass die Wissenschaft ihren Gegner verloren hat. Und wie immer verwandelt sich der besiegte Feind in eine Hypothek.
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II. Das Maß des Menschen
In unserer hochkomplexen modernen Welt bekommt man häufig des Eindruck: Immer wenn sich der Mensch in den Mittelpunkt stellt, steht er im Weg. Der Mensch ist der Flaschenhals der Informationsgesellschaft, weil er Informationen nicht parallel prozessieren kann.
Aufmerksamkeit als knappste Ressource
Man schätzt, dass 98 Prozent aller dargebotenen Informationen nicht bewusst verarbeitet werden. Und tatsächlich erscheint immer nur ein winziger Weltausschnitt auf dem Monitor des Bewusstseins. Es verarbeitet nur 40 Bit pro Sekunde. Das Bewusstsein muss deshalb Information vernichten. Man kann es auch so sagen: Aufmerksamkeit ist die knappste Ressource.
Mensch-Maschine-Synergie
Deshalb ist es sinnlos, die Zukunft der Multimedia-Gesellschaft nach dem Schema des Mensch-Maschine-Wettbewerbs zu entwerfen. Stattdessen brauchen wir ein mutiges Design der künftigen Mensch-Maschine-Synergie.

Keine Angst also vor kybernetischen Organismen und Artificial Life. Nur vor diesem Hintergrund kann dann sinnvoll nach der Stellung des Menschen im Cyberspace gefragt werden, mit anderen Worten: What Computers can't do.
Kraft des Vergessens und der organisierten Ignoranz
Menschen haben die Kraft des Vergessens und der organisierten Ignoranz. Deshalb sind sie unverzichtbar als Relevanzfilter und Agenten der Selektion. Was Computer nämlich nicht können, sind die Intelligenzleistungen des Infomapping und des Wissensdesigns.

Und wenn sich Menschen in Zukunft mythisch verklären, dann nicht mehr in der Gestalt des Prometheus (Produktion), sondern des Hermes (Kommunikation).
Weltweite Vernetzung - "information at your fingertips"
Alle wollen heute global denken, weltweit vernetzt und gleichzeitig mit dem Weltwissen sein - information at your fingertips. Dabei sind die konkreten, präsenten Körper nur noch Störfaktoren.

So funktioniert technische Kommunikation meist viel stabiler und befriedigender als Dialoge oder Interaktionen zwischen Anwesenden. An die Stelle der Vertrautheit mit dem Nächsten tritt heute die virtuelle Nachbarschaft im Cyberspace.
Jeder einzelne als Global Player
Wir leben in einer Welt, in der Orte kaum mehr eine Rolle spielen. So muss sich der erfolgreiche Geschäftsmann der Zukunft als Kommunikationsnomade und Kommunikationsmonade entwerfen: jeder einzelne wird zum Global Player und "entwirft" sich auf immer wieder neue Netzwerke.

Doch in der Euphorie solcher Perspektiven ignoriert man einen entscheidenden anthropologischen Sachverhalt: Die Grenzen individueller Informationsverarbeitung sind die Grenzen der Interdependenz in Organisationen und Netzwerken.
Ignorieren anthropologischer Grenzen
Mit anderen Worten: Die Management-Gurus, die den Neuen Menschen des Internet verheißen (die "permanente Revolution" des Business), ignorieren die anthropologischen Grenzen der Mobilität und Wandlungsfähigkeit.

Das größte Hindernis auf dem Weg zu einer Wissensgesellschaft scheint also der Mensch zu sein, dessen "Antiquiertheit" sich seit den Tagen von Günther Anders dramatisch verdeutlicht hat.
Optionsvielfalt kontra Zeitressourcen
Technische Kommunikation eröffnet eine Optionsvielfalt, die in keinem Verhältnis mehr zu unseren Zeitressourcen steht. Die Datenflut der Multimedia-Welt macht folglich Aufmerksamkeit zur knappsten aller Ressourcen.
Fast Food des Wissens
Unter solchen Bedingungen setzt sich - ähnlich wie McDonalds beim Essen - eine Art Fast Food des Wissens durch. Der erfolgreiche Angriff des "Focus" auf den "Spiegel" ist dafür ein anschaulicher Beleg.

Und auch Pädagogen vertrauen längst nicht mehr auf den von Aristoteles im ersten Satz seiner Metaphysik versprochenen "Willen zum Wissen", sondern arbeiten an Mischformen von Lehre und Unterhaltung; längst spricht man ganz selbstverständlich von Info-Animation, ja von "Infomotion".
Filterung und Selektion der Information
Das humanistische "Maß des Menschen" re-formuliert die Wissensgesellschaft heute in technischen Begriffen der Filterung und Selektion. Ein Filter reduziert ja Komplexität, indem er eine gewisse Informationsmenge als "Noise" disqualifiziert. Mit anderen Worten: Rauschen ist Information, von der man nichts wissen will.

Bekanntlich leben wir in einer hochkomplexen, "unübersichtlichen" Welt, und diese Komplexität erzwingt kontingente und deshalb riskante Selektionen. Kontingent sind diese Selektionen - denn morgen ist es anders!
Problem der "intelligent discrimination"
Und weil niemand verbindlich sagen kann, was wichtig ist, sind alle Selektionen riskant. "You can't live without an eraser", sagt deshalb Gregory Bateson zurecht.

Es handelt sich hier um das Problem der "intelligent discrimination": Was wird nicht erforscht? Was kann ich vernachlässigen? Welche Bücher muss ich wirklich lesen?
Das wertvollste Wissen
Das wertvollste Wissen ist heute: zu wissen, was man nicht zu wissen braucht. Nützlichkeit ist aber ein anthropozentrischer Begriff, der sich nicht mathematisch formalisieren lässt.
Mehr von den Salzburger Humanismusgesprächen in science.orf.at:
Das Statement von ORF-Wissenschaftssprecher und Hörfunkintendant Manfred Jochum.
->   Eröffnung der Salzburger Humanismusgespräche
 
 
 
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01.01.2010