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Das Gehirn weiß mehr, als es zugibt  
  Wer etwas mehr Energie in eine Aufgabe investiert, kann mehr herausholen - dieser weise Spruch gilt auch für die Gedächtnisarbeit unseres Gehirns. Das konnte ein Wiener Neurobiologe im Zuge eines vom Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten Forschungsprojekts rund um die Grundlagen von Gedächtnisfunktionen feststellen.  
"Gehirnfehler": False Recognition
Sie kennen das Gefühl: Sie sehen das Gesicht einer Person und sind felsenfest davon überzeugt, diesen Menschen zu kennen, obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen haben. Dabei handelt es sich nicht um ein Deja-vu. Ihr Gehirn hat Sie quasi hinters Licht geführt.

In der Wissenschaft nennt man dieses Phänomen "False Recognition", fehlerhafte Wiedererkennung. Es basiert auf einer Überlagerung von bereits im Hirn gespeicherter Information.

Mit den Grundlagen dieser und ähnlicher Hirnleistungen hat sich der Wiener Neurobiologe Peter Walla gemeinsam mit Forschungskollegen von der Universitätsklinik für Klinische Neurologie und Diagnostische Radiologie am AKH Wien auseinander gesetzt.
->   Die Uni-Kliniken am AKH Wien
Implizites Gedächtnis
Im Zuge eines groß angelegten Forschungsprojekts unter der Leitung des Wiener Neurologen Wilfried Lang wurden mit Hilfe von Elektroenzephalographen (EEG) und dem Magnetresonanz-Enzephalographen (MEG) die elektrophysiologischen Abläufe bei Gedächtnisprozessen analysiert.

Walla leistete unter anderem vor zwei Jahren einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis des so genannten impliziten Gedächtnisses: "Das Gehirn weiß sozusagen mehr, als es zugibt", erläutert Walla das vom Wissenschaftsfonds (FWF) geförderte Forschungsprojekt.

"Tatsächlich hinterlässt im Gehirn jede Wahrnehmung Gedächtnisspuren. Aber nur ein kleiner Teil ist später bewusst abrufbar."
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Gedächtnis
die Fähigkeit des Nervensystems, Informationen zu speichern und wieder abzurufen. Je nachdem, wie lange eine Information gespeichert wird, unterscheidet man beim Menschen zwei Gedächtnisstufen: das kleine, aber schnelle Kurzzeitgedächtnis u. das langsame Langzeitgedächtnis.

Insbesonder durch Einüben und Verknüpfung mit Emotionen oder bereits Bekanntem können Informationen vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis übernommen werden. Umgekehrt verläuft das Erinnern an alte Informationen über den Kurzzeitspeicher. Trotzdem können im Langzeitgedächtnis gespeicherte Informationen nicht immer ins Bewusstsein geholt werden.

Die Gedächtnisbildung fällt umso leichter, je mehr Sinne daran beteiligt sind, da die Informationen in komplexen Nervennetzen durch Überlagerungen gespeichert werden. Außerdem scheint durch Wiederholungen eine Art Bahnung bestimmter physiologischer Vorgänge an den Nervenzellen stattzufinden.

Man geht heute davon aus, dass beim Menschen das limbische System an der Bildung von Gedächtnisspuren beteiligt ist, die Erinnerungsaktivierung dagegen nicht an bestimmte Gehirnstrukturen gebunden ist.
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Elektrophysiologischer Nachweis
Im Rahmen eines der Projekte wurde die Frage erörtert, ob sich das implizite Gedächtnis im Gehirn elektrophysiologisch nachweisen lässt. Dazu führten die Forscher Wortexperimente mit Testpersonen durch: In der Studierphase wurden den Personen 20 Wörter visuell gezeigt.

In der Testphase wurden diese Wörter noch einmal, vermischt mit neuen Wörtern, präsentiert. Die Personen mussten zwischen bereits gesehenen und neuen Wörtern unterscheiden.
Unterschiedliche Nervenzellaktivitäten
Zur Analyse des impliziten Gedächtnisses waren für Walla vor allem jene Gehirnprozesse interessant, in denen die Testpersonen bereits gesehene Wörter fälschlicherweise als neu und neue Wörter korrekt als unbekannt interpretierten.

"Das Interessante ist, dass die Personen zwar in beiden Fällen bewusst 'Nein, das Wort kenne ich nicht' sagen, dass sich aber bei der Analyse der Prozesse im Gehirn ganz unterschiedliche Nervenzellaktivitäten zeigen", beschreibt der Neurobiologe die Ergebnisse der Untersuchungen.
Lokalisierbare Gedächtnisspuren
"Das ist für uns ein Zeichen des impliziten Gedächtnisses: Das neue Wort wird anders verarbeitet als das bereits wahrgenommene, aber nicht bewusst abrufbare Wort. Diese elektrophysiologischen Unterschiede in der Gehirnaktivität sind für uns ein erster sichtbarer Beweis, dass das implizite (unbewusste) Gedächtnis physiologisch beschreibbar und lokalisierbar ist."

Solche Gedächtnisspuren wurden vom Neurologen Wolfgang Lalouschek auch bei Patienten mit einem stark beeinträchtigten bewussten Gedächtnis - das so genannte amnestische Syndrom - nachgewiesen.
Mehr Lernanstrengung, weniger Erinnerungsfehler
Ein weiteres Experiment mit Testpersonen nahm sich des Phänomens der "False Recognition" an. "Wir stellten fest, dass die Fehlerrate bei der Wiedererkennung mit der Intensität der Verarbeitung während des Studiums sinkt", resümiert Walla.

"Oberflächliche Lernprozesse, die sich nur an der Struktur eines Wortes orientieren, werden offensichtlich nur im impliziten Gedächtnis gespeichert. Unter Einbezug der Semantik - das Wort wird mit seiner inhaltlichen Aussage verknüpft und erlernt - scheint dies im Gehirn weitere neuronale Systeme, die zusätzliche Energie kosten, zu aktivieren. Das Wort kann später mit höherer Wahrscheinlichkeit erinnert werden." Wer also etwas mehr Arbeit in den Lernprozess investiert, kann mehr herausholen.

Eva-Maria Gruber, "Universum Magazin"
->   Wissenschaftsfonds
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->   Mehr über Gehirnforschung in science.orf.at
 
 
 
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01.01.2010