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Gläserne Metropolen: Überwachung von Stadträumen  
  Schon seit langem sind wir mit der Orwellschen Phantasie vertraut, wir könnten zu "gläsernen Menschen", also zu total überwachten Individuen werden. Nach der Zerstörung des World Trade Centers in New York werden wir uns mit der Vorstellung "gläserner Metropolen" anfreunden müssen: Stadträume, die flächendeckend und tiefenwirksam kontrolliert werden.  
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IFK - Schwerpunkt "Metropolen im Wandel"
Lutz Musner ist Mitarbeiter des IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien, dessen neuer Forschungsschwerpunkt "Metropolen im Wandel" ist. In seinem Beitrag beschreibt er den urbanen Raum als neue Gefahrenzone.
->   Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften
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Die Metropole des 21. Jahrhunderts
Von Lutz Musner

Mit New York City haben die Attentäter nicht irgendeine Großstadt getroffen, sondern die Metropole des beginnenden 21. Jahrhunderts.

Denn diese Stadt steht für Exemplarisches: sie steht für atemberaubende modernistische Architekturexperimente, für globale Finanzmacht und Börsenspekulation, für eine gelungene Melange von Kunst und Kommerz, für funktionierenden Multikulturalismus und für ein freies, pulsierendes und kosmopolitisches Leben.
Leuchtturm und Utopie
New York war und ist die Hauptstadt der Moderne, ihr Leuchtturm und ihre Utopie. In keiner anderen Stadt haben Marktkonkurrenz, Technologie und Demokratie ihr Potential von entfalteter Subjektivität, Innovation und Kreativität aus dem Fundus ihrer Zuwandererkulturen und von Pluralität und Geschwindigkeit als ästhetischen Werten an sich so evident demonstriert.

Und keine andere Metropole hat ihren BewohnerInnen so viel Freiheiten und Freiräume, ja einen geradezu grenzenlos anmutenden Individualismus zugestanden.
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All das steht nun offenbar zur Disposition. Politik, Medien und Journalisten, natürlich aber Geheimdienste und Polizei, ja selbst Intellektuelle kündigen dem obsessiven Individualismus ohne staatliche Aufsicht und Kontrolle ihre Gefolgschaft.
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Gefahrenzone
Der urbane Raum wird nicht mehr als Ort individueller Emanzipation angesehen, sondern als Zone von Gefahr und möglicher, jederzeit stattfinden könnender Brachialgewalt gegen viele ihrer EinwohnerInnen.

Fast mag es erscheinen, als ob nun all das, was kulturell und politisch einst mit dem gesellschaftlichen Aufbruch von 1968 assoziiert wurde, endgültig passé sei.
Leben in Freiheit
Es gilt nicht mehr die Annahme, dass in den Großstädten der Moderne viele einander Unbekannte miteinander ein Leben in Freiheit teilen und damit einen zivilisierten und symmetrischen Austausch zwischen den Ethnien, Religionen und Wirtschaftsinteressen gestalten wollen, sondern es gilt - zumindest der Tendenz nach - der universelle Verdacht gegen jedermann und jederfrau, er oder sie könnten "Schläfer" und potentielle Terroristen sein.
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Statt Civitas und Bürgergesellschaft gilt nunmehr wohl Paranoia als neue strategische Rationalität und als pragmatisches Alltagskalkül.
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Staatsfeinde
"Enemy of the State" ist damit nicht mehr eine bloß filmische "Fiction", sondern vielmehr "Faction", d. h. eine Realerzählung, die - genährt aus apokalyptischen Hollywoodstreifen und archaischen Mythen - die Tatsachen nicht nur überlagert, sondern mit einem pathogenen Substrat diffuser Ängste durchsetzt.

Als Staatsfeinde werden nicht nur sinistere Gangster, Extremisten, Terroristen und gewaltbereite Grenzgänger aus dem konservativen Bilderfundus der Mediengeschichte bezeichnet, sondern neuartige, nomadisierende Bösewichte, die Orte und Ziele gleichermaßen wie auch Aussehen und Identität ändern können.
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Neue Tatorte
Ihre Tatorte sind Metropolen, Wolkenkratzer, Börsen und Flugzeuge. Ihre Waffen sind banal: nämlich normale Utensilien und Werkzeuge westlicher Konsumgesellschaften. Ihre Organisationsformen sind flexibel - kybernetisch, fraktal und virtuell. Da sie überall und nirgends zu sein scheinen, erscheint auch ihre Auffindung und Identifizierung als universelle Aufgabe, die a priori vor nichts halt zu machen hat. Die schreckliche "Nichtexistenz" des nomadisierend "Bösen", das jederzeit den Massenmord verursachen könnte, nährt dieserart virologische und epidemiologische Angstvorstellungen.
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Stadtluft macht nicht mehr frei
Den Metropolen ist angesichts solcher Phantasmen vorerst keine befreiende Utopie mehr eingeschrieben. Stadtluft macht offensichtlich nicht länger frei, sondern transportiert multiple Ängste.

Zum einen die Furcht vor technischen Großkatastrophen, die durch die Entschlossenheit weniger Attentäter ausgelöst werden könnten; und zum anderen die Furcht vor einem ordnungspolitischen Großangriff des Staates, der dem "Bösen" mit allen Mitteln auf die Spur kommen möchte und dabei die Verletzung von Bürger- und Menschenrechten als unvermeidlichen "Kollateralschaden" hinnimmt.
Vorahnungen
Doch allzu neu sind diese Befürchtungen nicht. Schon 1948 schrieb der bekannte amerikanische Literaturkritiker Elwyn Brooks White in seinem Essay "Here is New York":

"The city, for the first time in its long history, is destructible. A single flight of planes no bigger than a wedge of geese can quickly end this island fantasy, burn the towers, crumble the bridges, turn the underground passages into lethal chambers, cremate the millions. The intimation of mortality is part of New York now: in the sound of jets overhead, the black headlines of the latest edition. All dwellers in cities must live with the stubborn fact of annihilation; in New York the fact is somewhat more concentrated because of the concentration of the city itself, and because, of all targets, New York has a certain clear priority."

Mit dem 11. September ist für uns alle klar deutlich geworden, dass diese Vorahnung E. B. Whites nicht nur für New York ihre Gültigkeit haben könnte.
->   IFK Forschungsschwerpunkt Metropolen in Wandel
 
 
 
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01.01.2010