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Die virtuelle Hochschule  
  Die Entwicklung und der Einsatz neuer Medien werden die Hochschullehre in Zukunft einschneidend verändern. Die Möglichkeiten der Digitalisierung zwingen dazu, Wissenserwerb und Wissensvermittlung ganz neu denken. Die "Virtualisierung der Hochschule" wird aber auch für die Diskussion über organisatorische Reformen der Universitäten nachhaltige Folgen haben.  
Virtualisierung als Vitalisierung?
Damit die Virtualisierung der Hochschulen tatsächlich zu einer "Vitalisierung" führt, müssen erst bürokratische Ketten und Denkblockaden beseitigt werden, um den Weg freizumachen für international wettbewerbsfähige Hochschulen, die auch ihr Geld für die Gesellschaft wert sind.

Vom Einsatz und der Entwicklung neuer Medien ist aber nicht zu erwarten, dass Sie automatisch reformierte Hochschulen hervorbringen. Vielmehr müssen sie das Ergebnis bewusster und eigenverantwortliche Entscheidungen der Hochschulen selbst sein.

Die bewusste Organisationsreform steht also vor einer sinnvollen und produktiven Virtualisierung der Universitäten. Diese These vertritt Detlef Müller-Böling, der Leiter des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) der Bertelsmann Stiftung, in seinem Buch "Die entfesselte Universität".
Neues Leitbild
Die Hochschule der Zukunft verlangt demnach einen ganzheitlichen Ansatz und ein neues Leitbild. Neben der Nutzung der Digitalisierung von Wissen in Forschung und Lehre, die Müller-Böling im Schlusskapitel seines Buches behandelt, bilden Autonomie und Wissenschaftlichkeit, Internationalität und Wettbewerbsorientierung die Säulen einer künftigen Hochschule, die sich auch nach wirtschaftlichen Kriterien autonom organisiert.
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Detlef Müller-Böling
Detlef Müller-Böling war Professor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Dortmund, Fachgebiet Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung, 1990-1994 Rektor der Universität Dortmund. Seit 1994 leitet er das CHE Centrum für Hochschulentwicklung, Gütersloh. Sein Buch "Die entfesselte Hochschule" ist im Verlag Bertelsmann Stiftung erschienen.
Gestern abend präsentiert Detlef Müller-Böling in einem Vortrag in in Wien das Leitbild der "entfesselten Universität" und kommentierte aktuelle hochschulpolitische Entwicklungen in Deutschland und Österreich. Science.orf.at stellt seine Überlegungen zur virtuellen Hochschule vor.
->   Mehr über den Vortrag von Detlef Müller-Böling
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Hochschulentwicklung und medienentwicklung
Die Verbindung der Hochschulentwicklung zur Medienentwicklung wirft derzeit noch mehr Fragen auf, als brauchbare Antworten verfügbar sind, betont Müller-Böling. Das hängt vor allem damit zusammen, dass sich die Entwicklungen im Medienbereich viel rasanter als jede denkbare Hochschulreform vollziehen.

Trotz dieser "Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen" sollte angesichts einer zunehmenden Digitalisierung auch die Hochschulentwicklung völlig neu gedacht werden. So wie sich das papierlose Büro nicht vollständig durchgesetzt hat, wird auch die virtuelle Hochschule nicht menschenleer sein. Sie wird sich aber von den bestehenden Universitäten grundlegend unterscheiden.
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Campus-Universitäten als Relikte?
In 30 Jahren von heute an gerechnet werden die großen Campus-Universiträten Relikte sein. Sie werden als physisch erlebbare Institutionen, zu denen die Studenten kommen, um ihren Wissens- und Erfahrungshoriziont zu erweitern, nicht überleben. Ihre Gebäude sind für diese Aufgabe nicht nur häufig ungeeignet, sie werden in Zukunft auch gar nicht mehr benötigt. Die Zukunft der Universitäten liegt außerhalb des Campus, sie liegt außerhalb klassischer Hörsäle und Seminarräume.
(Peter Drucker, 1997)
->   Peter Drucker Foundation
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Vernetzung von Bildungsangeboten
Beim traditionellen Studium an einer Hochschule werden bestehende Programmangebote und Programmstrukturen durch neue Studienelemente erweitert, teilweise aber auch ersetzt werden. Lehr- und Lernprozesse werden künftig in ein globales Netz von Bildungsangeboten eingebunden sein.

Das gilt insbesondere für Formen der Wissensvermittlung, die dem traditionell als Fernstudien zugerechneten Bereich zugeordnet werden, so Müller-Böling.
Beispiel Open University
Allerdings zeigt das Beispiel der Open University, einer Parade-Institution für Fernstudien, dass begründete Vorbehalte gegen eine allzu weitgehende Virtualisierung der Lehrangebote bestehen.

Als Konsequenz aus den bisherigen Erfahrungen mit dem Einsatz neuer Medien werden hier wieder Präsenzphasen mit persönlicher Betreuung der Studierenden und traditioneller Medieneinsatz - sprich: Skripten - betont, wie science.orf.at kürzlich berichtet hat.
->   Open University - Online Pionier mit Vorsicht
Zu jeder Zeit, an jedem Ort
Der Begriff der virtuellen Hochschule sollte genauer definiert und nicht inflationär verwendet werden - schließlich ist der Einsatz von neuen Medien in der Hochschullehre noch nicht gleichbedeutend mit einem Übergang zu virtuellen Hochschulen, deren Angebote zu jeder Zeit und an jedem Ort zugänglich sind.
Neue soziale Frage?
Entscheidend dafür wird die Handhabung von Zugangsberechtigungen sein, die aus kommerziellen Gründen, aber auch aus strategischem Kalkül neuer Anbieter, die sich auf dem künftigen Bildungsmarkt positionieren wollen, jederzeit wieder eingeschränkt werden können.

Die Gestaltung der Zugangsberechtigungen erhält damit für Müller-Böling eine große politische Bedeutung. Sie könnte zu einer der neuen "sozialen Fragen" in der künftigen Wissensgesellschaft werden.
Auflösung der Bildungsmonopole
Das Internet wird voraussichtlich andere Formen wissenschaftlicher Kommunikation, aber auch andere technologiebasierte Lehr- und Lernformen zurückdrängen - nicht zuletzt auch aus Gründen der Wirtschaftlichkeit.

Die Weitergabe von Wissen mit direkten Zugriffs- und Zugangsmöglichkeiten führt dazu, dass Institutionen umgangen werden, deren traditionelle Rolle in der Vermittlung von Wissen bestand. Nach der Ablösung traditioneller Bildungsmonopole ist ein zunehmend in Netzwerken eingebundenes, dort vermittelbares bzw. abrufbares Wissen für die Zukunft das zu erwartende Modell.
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Disaggregierung und Differenzierung von Wissen
"Wissen selbst unterliegt einer fortschreitenden Disaggregierung und Differenzierung. Informationen und Wissensbestände können in beliebiger Weise aufgebrochen, neu kombiniert, auf individuelle Weise zugeschnitten und für unterschiedliche Zwecke verwendet werden. Bei großer Reichweite von Angeboten und breiten Zugangsmöglichkeiten besteht damit zugleich die Möglichkeit individueller, maßgeschneiderter Adaption und Kombination verschiedener Wissensmodule." (Detlef Müller-Böling)
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An den Lernenden orientiert
Die Lernprozesse werden sich damit in Zukunft stärker an den Lernenden orientieren. Eine organisatorische Anbindung an Institutionen wird zweitrangig. Entscheidend, so Detlef Müller Böling, ist in erster Linie, "was hinten rauskommt": Also das Qualifikationsprofil und der Output.
Informelles Lernen
Damit wird ein "informelles" Lernen gefördert, wie es kürzlich auch der OECD-Bildungsberater und Experte für Fernstudien Günter Dohmen bei einem Vortrag in Wien beschrieben hat.

Ein Lernen, das sich außerhalb traditioneller Bildungsinstitutionen vollziehen kann, neue Bildungs-Orte und Medien erfordert und nicht mehr mit traditionellen Verfahren schulischer und universitärer Leistungsbewertung zu messen ist.
->   Infomelles Lernen - Lernen, um zu überleben
Von der Bürokratie zum Wissenschaftsmanagement
Die Medienentwicklung an Hochschulen wird auf halbem Wege stecken bleiben, wenn diese nicht handlungs- und entscheidungsfähig werden und ihre eigenen Prioritäen setzen können, ist Detlef Müller-Böling überzeugt.

Die rasante technische Entwicklung verlangt auch schnell und wirkungsvoll agierende Organisationsformen. Die Zielrichtung lautet daher: Vom Bürokratiemodell zum Wissenschaftsmanagement.
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Strategische Optionen
1) Die Schaffung eines virtuellen Campus: Neue Medien und Technologien werden dabei zur Ergänzung und Optimierung bestehender oder neuer Angebote genutzt.
2) Die zweite Option ist die Entwicklung virtueller Angebote für Interessenten außerhalb der jeweiligen Hochschule. Diese auch in interuniversitären Kooperationen zu entwickelnden und vermarktbaren Bildungs-Pakete orientieren sich am Leitbild des "Lebenslangen Lernens" und können speziell für die Nachwuchs-Qualifizierung genutzt werden (Postgraduate-Ausbildung).
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Transparenz der Hochschul-Profile
Für Studenten und Nutzer sollte deutlich erkennbar werden, welches Profil sich eine Hochschule mit ihren virtuellen Angeboten zuschreibt. Die Virtualisierung könnte damit auch zur größeren Transparenz und zur Professionalisierung in der Entwicklung und Vermittlung universitärer Leitbilder beitragen - ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt für die künftige Reform der Universitäten.
Geld folgt Studierenden?
Wenn sich die Hochschulfinanzierung an der Nachfrage orientiert und das Prinzip "Geld folgt Studierenden" sich durchsetzt, wird die Frage auftauchen, wie eine Mittelzuteilung erfolgen soll, die virtuelle und reale Grenzüberschreitungen bei Studienangeboten berücksichtigt und sich an der Mobilität der Studierenden bemessen lässt.

In dieser Situation aber muss sich die Hochschulplanung (und die Hochschul-Politik) wohl auch der Frage stellen, wie längerfristige Bildungs-Ziele mit kurzfristigen "Konjunkturschwankungen" für einzelne Studienangebote in Einklang gebracht werden können. Nicht zuletzt wird auch das Berufsbild des Hochschullehrers neu zu definieren sein.
Die Virtualisierung ist nicht aufzuhalten
Dass eine Virtualisierung der Hochschulen stattfinden wird, ist nicht mehr die Frage. Sie hat längst begonnen. Offen ist, ob es gelingen wird, in der Planung und Organisation die geeigneten Voraussetzungen dafür zu schaffen und dabei mit der rasanten Medienentwicklung Schritt zu halten.

Die Überlegungen von Detlev Müller-Böling zur "entfesselten Hochschule" bezeichnen wichtige neuraligsche Punkte in diesem Prozess. Eine weitere Diskussion darüber würde sich lohnen.
->   Centrum für Hochschulentwicklung
 
 
 
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01.01.2010