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50 Jahre Österreichisches Wörterbuch  
  Begriffe wie "Blunzengrösterl", "großkopfert" oder "Nackerpatzerl": Das Österreichische Wörterbuch, kurz ÖWB genannt, erklärt sie alle. Seit 1951 erscheint das Werk, in dieser Woche wird die neue, 39. Auflage präsentiert. Zeit für einen Rückblick auf 50 Jahre ÖWB, der eines zeigt: In seiner Entwicklung seit 1951 ist das Wörterbuch auch ein Spiegel der gesellschaftspolitischen Kultur Österreichs.  
Auch in der 39. Auflage, die am kommenden Donnerstag in einer Festveranstaltung präsentiert wird, ist das ÖWB laut Selbstbeschreibung kein neu konzipiertes Wörterbuch, sondern ein "gewachsenes", das von Auflage zu Auflage weitergeführt wird.

Diese Kontinuität macht es möglich, im Vergleich der historischen Ausgaben nachzuvollziehen, welche Wörter diskutiert, aufgenommen, verändert oder gestrichen wurden.
Spiegel gesellschaftspolitischer Kultur
An der lexikalischen Behandlung wird aber auch ablesbar, welchen Stellenwert zeitgeschichtliche Ereignisse und politische Begriffe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten. Das Wörterbuch wird damit zu einem Spiegel österreichischer politischer Kultur.
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Präsentation der 39. Auflage
Die Neuauflage des ÖWB wird am 18. Oktober im Rahmen einer Festveranstaltung im Haus der Industrie, Schwarzenbergplatz 4, 1030 Wien präsentiert. Beginn: 18.30 Uhr. Das neue ÖWB erscheint in einer Schulausgabe und einer Buchhandelsausgabe bei öbv & hpt.

Informationen zur Festveranstaltung (pdf-File)
Das ÖWB bei öbv & hpt

ÖWB-Mitarbeiter Markus Erwin Haider beschreibt in seinem Beitrag die politischen und gesellschaftlichen Kontexte der früheren Editionen.
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Politik fand im Wörterbuch nicht statt
Ein Beitrag von Markus Erwin Haider, ÖWB

Da man bei der Erstellung des Wörterbuches von Beginn an sowohl Schüler als auch Erwachsene als Benutzer ansprechen wollte, wäre - auch vor dem Hintergrund der Gegenwart des Jahres 1951 - anzunehmen, dass die politischen Leitwörter dieser Gegenwart und auch der unmittelbaren Vergangenheit mit entsprechender Bedeutungsangabe lemmatisiert wurden. Demgegenüber fand jedoch, verkürzt formuliert, Politik im Wörterbuch nicht statt.
Verdrängung und Lebenslüge der Nachkriegsjahre
Lediglich die unumstrittenen Fahnenwörter der aktuellen gesellschaftspolitischen Gegenwart wie Politik, Demokratie und Republik wurden mit spärlicher Bedeutungsangabe versehen, die problematischen Begrifflichkeiten nicht gebucht oder lediglich ohne jeden Zusatz verzeichnet. Verdrängung und Lebenslüge der Nachkriegsjahre fanden auch im ÖWB ihren Niederschlag.
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"National" ohne "Sozialismus"
So findet man im Block Nation auch den Nationalfeiertag, Nationalrat und Nationalstaat, nicht aber den Nationalsozialismus. NS wird konsequenterweise nur als Nachschrift aufgelöst. Termini, die auf die problematische innerösterreichische Vergangenheit verweisen, fehlen ebenso wie jene aus dem "Wörterbuch des Unmenschen", um hier den prominenten Buchtitel der Zeit zu zitieren: Faschismus, Bürgerkrieg, Ständestaat, Konzentrationslager u. v. m.
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Kein Eingehen auf problematische Zeitumstände
Auch auf die problematischen Zeitumstände wurde nicht eingegangen. Der Benutzer findet die DDSG, aber nicht als Bezeichnung der Zeit die SBZ (Sowjetisch besetzte Zone) oder Sowjetzone, auch nicht Ostdeutschland und erst in der 35. Auflage die DDR.
Beurteilung im Kontext der Entstehung
Es wäre sicherlich vorschnell, aus diesem Befund heraus Mängel allein abzuleiten. Relativierend einzubeziehen ist auch der Kontext des Jahres 1951, der hier seinen Niederschlag fand.

Das Buch sollte über die Besatzungsgrenzen hinweg Verbindlichkeit und Geltung erlangen und erschien gleichzeitig in einer Phase innerösterreichischer parteipolitischer Harmonie und Eintracht, auf deren Motive hier nicht weiter eingegangen werden soll.
Ein österreichisches Phänomen?
Vergleicht man jedoch das ÖWB in seiner ersten Auflage 1951 mit der 13. Auflage des einbändigen Duden aus dem gleichen Jahr (berichtigter Neudruck der 12. Auflage 1942), so wird deutlich, dass die Verdrängung der Vergangenheit auf lexikalischer Ebene ein spezifisch österreichisches Phänomen bildete.
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"Schwere Wörter" spärlich erklärt
Freilich blieben auch im Duden oft genug Bedeutungsangaben bei den "schweren Wörtern" spärlich. Wörterbücher bieten in der Regel wenig oder keine befriedigenden Antworten zum Sonderwortschatz des im weitesten Sinne politischen Bereiches gesellschaftlichen Denkens und Handelns; ein Desiderat, dessen Einforderung auch in der Sprachwissenschaft Tradition besitzt.
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ÖWB: Bis 1968 keine Änderungen der politischen Sprache
Das ÖWB wurde bis zur 34. Auflage des Jahres 1968 nur geringfügig innerhalb der Seitengrenzen geändert. Die Verbesserungen, die bis 1968 vorgenommen wurden, betrafen jedoch den Teil der politischen Sprache nicht. In diesem Bereich verblieb man vorerst auf dem ohnehin ungenügenden Stand des Jahres 1951.
Modernisierungsschub kam 1979
Einen entscheidenden Modernisierungsschub brachte erst die 35. Auflage aus dem Jahre 1979, für die das Wörterbuch umfassend neu bearbeitet und erweitert wurde.

Als wichtigste Neuerungen wären - neben der Erweiterung des Apparates der heute noch verwendeten Markierungen - das erweiterte Regelwerk zu nennen wie auch der neue allgemeine Anhang im Regelteil.

Streichungen obsoleter Eintragungen und Neuaufnahmen aktualisierten den Wörterbuchteil, der dadurch auf 338 Seiten in dieser Auflage angestiegen war.
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Kleine Sensation: Einzug der Sexualität
Hatte bisher mit Nymphe der Buchstabe N im ÖWB geendet, so zog nunmehr eine kleine Sensation in das Wörterbuch ein. Der 1979 wenn schon nicht mehr tabuisierte, so doch wenigstens heikle Bereich der Sexualität fand diskreten Eingang in das ÖWB: Nymphomanie samt Bedeutungserklärung beschloss jetzt das Alphabet vor O. Selbst vor dem neuen Lemma Sex, um ein vordergründiges Beispiel zu nennen, stoppte die Modernisierung nicht, im Gegenteil, auch Sex-Appeal und Sexbombe wurden verzeichnet und mit Bedeutungserklärung versehen. Der wissbegierige Benutzer wurde hier bis zur 34. Auflage nur mit einem mageren "sexuell: geschlechtlich" wesentlich weniger umfassend informiert.
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Diskretion im historisch-politischen Bereich
Freilich, die Diskretion erstreckte sich jedoch auch weiterhin noch auf den gesellschaftspolitischen Bereich des Lexikons. Man hatte zwar seitens der Bearbeiter einen Grundwortschatz historisch-politischer Terminologie in der 35. Auflage neu aufgenommen oder - soweit bestehend - teilweise mit Bedeutungsangaben oder Paraphrasierungen versehen, ließ aber weite Teile des relevanten Wortschatzes weiterhin unberührt.
"Österreich in der Zwischenkriegszeit" blieb ausgespart
Völlig ausgesperrt blieb erstaunlicherweise die Thematik "Österreich in der Zwischenkriegszeit" (etwa Vaterländische Front, Ständestaat, Dolchstoßlegende u. a.) als scheinbar fortbestehendes Tabu - vorerst ohnehin nicht nur auf lexikalischer Ebene.
Stetige Erweiterung bis zur 38. Auflage
Von der 35. bis zur 38. Auflage 1997 erfuhr schließlich das ÖWB eine stetige Erweiterung und Bearbeitung, die, wenn auch nicht systematisch, den Bereich gegenwärtiger und vergangener brisanter Wörter verstärkt einzubeziehen begann.
Grundlegende Überarbeitung des politischen Wortschatzes
Eine grundlegende Überarbeitung des politischen Wortschatzes wurde nun für die aktuelle 39. Auflage des ÖWB vorgenommen. Neuaufnahmen sollten vorhandene Lücken schließen und das Wörterbuch zugleich auf den aktuellen Stand bringen. Gleichzeitig wurden die Bedeutungsangaben bestehender Eintragungen bearbeitet und in der Regel erweitert.
Beispiel "Konzentrationslager"
Ein einzelnes durchaus prototypisches Beispiel aus einem anderen Schulwörterbuch, dem Wortprofi (3. Aufl. 1997): Konzentrationslager (KZ) (Lager mit menschenunwürdigen Bedingungen für Gefangene aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen). Es fehlt jeglicher Verweis, Vernichtungslager ist nicht gebucht.

Die Bedeutungserklärung freilich ist ungeheuerlich verkürzt. Die menschenunwürdigen Bedingungen allein kennzeichnen kein Konzentrationslager; an ihnen starben schließlich auch nicht Millionen. Konzentrationslager waren nicht nur menschenunwürdige Gefängnisse, sondern dienten auch und vor allem dem gleichsam industrialisierten Massenmord.
Unbedenklichkeitsbescheinigungen semantischer Art
Solchen Unbedenklichkeitsbescheinigungen semantischer Art wäre mit einem Konzept zu begegnen, das im Folgenden skizziert werden soll. Es umfasst in einigen Punkten Kriterien, nach denen der Bereich der politischen Sprache in der neuen Auflage des ÖWB vom Autor dieser Zeilen bearbeitet wurde:
1. Lemmatisierung eines Wortes genügt nicht
Die Lemmatisierung eines Wortes allein genügt keineswegs. Es ist eine billige Forderung an Wörterbücher für die Schule, nicht nur Wörter wie Witwe oder Polizeistunde hinreichend mit Bedeutungsangaben zu versehen, sondern auch und vor allem gesellschaftlich entscheidende Begrifflichkeiten.

Bedeutungsdifferenzierungen sind dabei aufzufächern, wie etwa beim Wort Volk: eine große Gemeinschaft von Menschen mit gleicher Kultur, Geschichte, Sprache und anderen verbindenden Merkmalen; die europäischen Völker | die Bevölkerung eines Staates; Staatsvolk | [...] | [...] | Gruppe mit gleichen Merkmalen; Bienenvolk.
2. Gesamtes Spektrum gesellschaftspolitischer Terminologie
Das gesamte relevante Spektrum gesellschaftspolitischer Terminologie aus Gegenwart und Vergangenheit ist zu behandeln. Dies schließt die österreichische Zwischenkriegszeit mit Februarkämpfe, Austrofaschismus u. a. ebenso ein wie in anderer Qualität die Vopo, die Stasi und so manches mehr.
3. Deutlichmachen stigmatisierter Wörter
Historisch stigmatisierte Wörter müssen als solche deutlich gemacht werden. Existiert eine historisch prägende Sonderbedeutung, so ist diese gesondert anzuführen. Dies betrifft insbesondere die Sprache des Nationalsozialismus, die sich weniger durch Neologismen als vielmehr durch die Besetzung vorhandener Lexik strukturierte.
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"Sonderbehandlung" und "Volksempfinden"
So geht etwa dem bekannten Euphemismus der Sonderbehandlung die Bedeutung nicht übliche Vorgehensweise voraus, aber es bleibt unerlässlich, die Stigmatisierung des Wortes transparent werden zu lassen: [...] | (im Nationalsozialismus): verhüllende Bezeichnung für die Ermordung Verfolgter (in den Konzentrationslagern). Ebenso ist daher auch im Kontext von Volksempfinden das gesunde Volksempfinden in seiner Bedeutung zu erklären: Rechtsbegriff im Nationalsozialismus, der es erlaubte, willkürliche Schuldsprüche zu verhängen.
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4. Verweis auf semantische Überschneidungen
Innerhalb semantischer Überschneidungen ist es notwendig, auf die einzelnen Lemmata zu verweisen, wie etwa beim Lemma Konzentrationslager auf Vernichtungslager und umgekehrt. In komplexere Zusammenhänge wie z.B. zwischen Rassendiskriminierung, Rassenhass, Rassismus und Rechtsextremismus könnte durch Verweise Einblick gegeben werden.
5. Scheinbar obsolet, aber wieder aktuell
Wenn auch scheinbar obsolet, sind Wörter auch dann zu verzeichnen, wenn sie in aktueller gesellschaftlich-politischer Diskussion wieder zu Aktualität gelangen. Der Wörterbuchbenutzer soll bei manchen mindestens bedenkenlosen, in jedem Fall aber bedenklichen Aussprüchen vereinzelter Personen öffentlichen Lebens auf der Ebene des Wörterbuches ein Referenzorgan finden können.
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Beispiel "Gleichschaltung"
So schien ein Modewort der Nationalsozialisten bei der Errichtung des NS-Staates, die Gleichschaltung, in jüngerer Vergangenheit in vereinzelten Wortmeldungen wieder versuchsweise eingeführt zu werden. Die Bedeutung des Wortes sollte daher im Wörterbuch nachlesbar sein: (meist abw.): Anpassung, Uniformierung | (im Nationalsozialismus): die Vereinheitlichung des öffentlichen wie des privaten Lebens (mittels Zwangsmaßnahmen).
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Grenzen des Aufbaus durch Rezipienten
Dem hier beispielhaft skizzierten Aufbau sind freilich Grenzen gesetzt. Sie werden primär durch die Rezipienten bestimmt. Im Fall des Schulwörterbuches sind dies Schüler ab der fünften Schulstufe.

Sie nähern sich im Fach Geschichte und Sozialkunde dem Bereich der gesellschaftspolitischen Terminologie der Neuzeit erstmals ab der 7. Schulstufe. Die in politischer Sprache ohnehin brisante Komplexität der Bedeutung sollte dabei wenigstens in ihren Grundzügen verständlich dargestellt sein.
Aktualität - eine Frage der Laufzeit
Die Aktualität eines Wörterbuches ergibt sich naturgemäß aus der Laufzeit seiner jeweiligen Auflagen. Grenzen sind daher auch durch die Aktualität der Bearbeitung und die Dauer einer Auflage gesetzt.
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Gutmenschen, Neger, Eskimos ...
Wer vermag heute zu sagen, ob die Gutmenschen in einigen Jahren noch eine verbale Kategorie darstellen werden? Die gegenwärtig viel zitierte "Political Correctness" bringt im allgemeinen Sprachgebrauch gerade hier neben überfälligen Änderungen - wie etwa beim hoch aktuellen Wort Neger - auch bei Wörterbüchern so manchen Entscheidungszwang, der an Prophetie grenzt. So bedeutet das Wort Eskimo Rohfleischesser und wurde von einer anderen diskriminierten Minderheit, den Indianern, geprägt. Die, man verzeihe, Eskimos wiederum meiden diesen Namen und bezeichnen sich selbst als Inuk (Sg.)/Inuit (Pl.).
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ÖWB: Gesellschaftspolitischer Spiegel der Zweiten Republik
Zusammenfassend formuliert zeigt die Rückschau, dass das ÖWB im Bereich der brisanten Wörter annähernd die gesellschaftspolitischen Tendenzen der Zweiten Republik widerspiegelt.

Sie reichen von der Verdrängung der Vergangenheit und dem konsensualen Zusammenhalt der Nachkriegsjahre in den früheren Auflagen bis zur Einarbeitung der kritischen Auseinandersetzungen der Gegenwart.
 
 
 
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01.01.2010