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Kontrolle statt Sozialpolitik?  
  Die globalen Finanzinteressen und Kapitalprozesse werden heute weitgehend im elektronischen Raum abgewickelt und nehmen wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse schwächerer Gruppen oder Länder. Experten sehen hier den Ursprung vieler Konflikte, wofür etwa die Globalisierungsgegner stehen. Ihre Befürchtung: Kontrollpolitik wird sich immer stärker gegenüber einer ausgleichenden Sozialpolitik durchsetzen.  
"Es ist heute eindeutig der Fall, dass die Kapitalprozesse so ausgerichtet sind, dass das Kapital ohne Rücksicht die eigenen Maxime durchsetzen kann", sagt Wilhelm Heitmeyer vom Institut für interdisziplinäre Konflikt und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.

Für ihn ist die Angst vor Kontrollverlust die Generalkategorie, die heute das soziale und politische Handeln prägt. "Die Kapitalinteressen werden im elektronischen Raum abgewickelt. Dieser entzieht sich jeder Kontrolle," so Heitmeyer weiter.
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Kontrollpolitik statt Sozialpolitik
Das Szenario, das Wilhelm Heitmeyer entwickelt, entwirft für das 21. Jahrhundert eine Gesellschaft, in der Kontrollpolitik an Stelle von ausgleichender Sozialpolitik tritt. Diese Strukturanalyse stützt sich auf die Beobachtung ökonomischer Veränderungen. Die Globalisierung der Finanzmärkte steht im Konflikt mit einer Sozialpolitik, die einen breiten gesellschaftlichen Konsens ermöglicht und die Bedürfnissen der ökonomisch schwachen Gruppen schützt.
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Stabilisation und Destabilisation durch Finanzspekulation
Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung sieht in den Finanzmärkten den einzigen globalisierten Bereich in der Ökonomie: "Täglich werden rund 1500 Milliarden Dollar spekulativ bewegt. Das ist ein Vielfaches von dem, was für den Welthandel notwendig wäre."

Finanzspekulationen stabilisieren und destabilisieren nationale Währungen. "Hinter der Abwertung des Peso in Argentinien steht die reale Verschlechterung der Lebensbedingungen von Hunderttausenden von Menschen", so Rucht weiter.
Wendepunkt 1990
Seit 1990 ist die Weltpolitik neu organisiert. "Bis dahin gab es drei globale Kräfte. Die beiden Blöcke des Nordens haben um die Gunst der sogenannten 3.Welt konkurriert. Die 3.Welt war ein Machtfaktor. Mit dem Sieg der westlichen Hegemonie, dem Wegfallen des anderen Pols sind neue Abhängigkeiten entstanden. Es gibt keine Wahlmöglichkeiten mehr", sagt Rucht.
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Das Ignorieren von Argumenten
Dieter Rucht analysiert in einem Forschungsprojekt am Wissenschaftszentrum Berlin die Motive und Handlungsstrategien der unterschiedlichen Protestgruppen nach 1950 in Deutschland in ihrer medialen Wirksamkeit. Die gewalttätigen Eskalationen in Göteborg und Genua in diesem Sommer führt er darauf zurück, dass die Argumente der regierungskritischen Organisationen von den politisch Verantwortlichen über Jahre ignoriert worden waren. Die sozialen und ökologischen Probleme haben sich weltweit im letzten Jahrzehnt jedoch verschärft.
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Gegenseitige Beeinflussung
Die Freiheit des elektronischen Raumes, indem die globalisierten Finanzmärkte abgewickelt werden und die neue Abhängigkeit vom Westen, führt zur Verunsicherung - und zum Konflikt. Diese Faktoren verändern aber auch die sozialen Strukturen in den Ländern der westlichen Demokratien.

"Die sozialen Kontrollmechanismen, die eine Balance der Interessensansprüche in der Gesellschaft garantieren sollen, werden sukzessive außer Kraft gesetzt", meint Wilhelm Heitmeyer. Das führt zur subjektiven Wahrnehmung von Kontrollverlust über das eigene Leben.
Der Beginn der Verunsicherung
"Das beginnt individuell, dass jeder Mensch seine Selbstwirksamkeitserfahrung in Gang bringen muss. Wenn die Menschen die Kontrolle über ihre Lebensplanung verlieren, reagieren sie verunsichert. Verunsicherung bewirkt aber die Suche nach Autorität, die Ordnung schafft. Sie begünstigt autoritäre Regime. Das trifft auch auf die kollektive Ebene zu, wenn eine Gruppe ohne Rücksicht auf andere ihre Interessen durchsetzt", meint Heitmeyer.
Seattle - Geburtsort der Globalisierungsgegner?
Die Zuschreibung als "Anti - Globalisierer" erscheint Dieter Rucht falsch. "Diese Gruppen wollen eine Solidarität über die Grenzen hinweg. Sie agieren nicht von einem regionalistischen Standpunkt aus. Ihr Widerstand richtet sich gegen die Neo-Liberale Bewegung innerhalb der Finanzmärkte", meint Rucht.

Die Globalisierungsgegner wurden in den Medien nach den Demonstrationen in Seattle als international vernetzte Protestbewegung wahrgenommen. Auch im Selbstentwurf der Demonstranten spielt Seattle eine entscheidende Rolle.

"Seattle wird als Durchbruch gefeiert, weil es bei diesem Treffen der WTO zu keiner Abschlussvereinbarung gekommen ist. Diese ist aber nicht am Protest der Demonstranten gescheitert. Die USA hat versucht, einen Konsens vorzuformulieren und Allianzen zu bilden. Als die Länder aus dem Süden das bemerkten, haben sie die Konferenz platzen lassen", glaubt Rucht.
Der Beginn eines Dialoges
Den eigentlichen Erfolg von Seattle sieht Dieter Rucht darin, dass sich hinter den Kulissen Vertreter der offiziellen Delegationen mit den Experten der regierungskritischen Gruppen getroffen haben.

" Es gibt Verbindungslinien von fachlich fundierten Protestgruppen, von Experten, die Konzepte ausarbeiten, zu den Delegationen der Länder aus dem Süden. Diese nehmen das Angebot von Fachwissen wahr und bringen es in die Verhandlungen mit ein", sagt Rucht.

Der Dialog von Spezialisten regierungskritischer Gruppen mit den Gremien der Weltorganisationen eröffnet Konfliktlösungen, die themenspezifisch zum Konsens führen könnten Diese Lösungen könnten allen Interessensgruppen gerecht werden.
Terror zerstört Vertrauen
Terroristische Anschläge wie die in New York oder Washington lösen bei den regierungskritischen Gruppen große Besorgnis aus.
"Sie erleben die terroristischen Akte auch bedrohlich für sich und ihre Mobilisierungsmöglichkeiten. Die Furcht besteht, dass die Konfrontation keinen Raum mehr für differenzierte Positionen zulässt", erklärt Rucht.

Trotzdem ist Dieter Rucht optimistisch. Denn Jenseits aller militärischen Aktionen wird die Politik gefragt sein. Es wird notwendig sein, andere Kulturen und Positionen besser zu verstehen. Und mit diesem Bedarf, meint Dieter Rucht, wächst langfristig die Chance derer, die sich um diese Themen bemüht haben.

Ein Beitrag von Margarethe Engelhardt für das Salzburger Nachtstudio am 17. Oktober um 21.00 Uhr auf Ö1.
->   Radio Österreich 1
->   Institut für interdisziplinäre Konflikt und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld
->   Dieter Rucht - Politische Öffentlichkeit und Mobilisierung
 
 
 
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01.01.2010