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"Gefährliches" Wissen: Der Krimi um ein Lexikon  
  Kann Wissen zur Bedrohung werden? Es kann, wenn es sich gegen Obrigkeiten wendet, die das Denken mit allen Mitteln am Gängelband zu halten trachten. Vor über 250 Jahren erschien in Frankreich jenes Wissenskompendium, das zu den subtilsten Angriffen auf die reglementierende Macht von Kirche und Staat zu zählen ist: die "Encyclopedie" von Diderot und d'Alembert.  
Die Aktualität der Encyclopedie
Um die Bedeutung und Aktualität dieses Katalysators der Aufklärung für die Gegenwart herauszustreichen, brachte die "Andere Bibliothek" im Eichborn-Verlag eine komprimierte Neuausgabe dieser Bibel des Wissens heraus.

Die von Anette Selg und Rainer Wieland herausgegebene deutsche Ausgabe der "Encyclopedie" beschränkt sich dabei nicht auf einen repräsentativen Überblick über Wissensbestände und Wissensorganisation des 18. Jahrhunderts. Zeitgenossen wie Alexander Kluge, das Kulturwissenschaftler-Ehepaar Jan und Aleida Assmann, Hans-Magnus Enzensberger und Science-Host Anton Zeilinger haben für das Projekt zentrale Themen der "Encyclopedie" in kurzen Essays noch einmal aufgegriffen.
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Kompendium des menschlichen Wissens
"Zur Verwirklichung dieses Plans, der nicht nur die verschiedenen Gegenstände unserer Akademien, sondern auch alle Zweige des menschlichen Wissens umfasst, soll eine Enzyklopädie beitragen; ein Werk, das nur von Gelehrten & Künstlern geschaffen werden kann, die getrennt arbeiten & nur durch das allgemeine Interesse der Menschheit." Diderot im Artikel "Enzyklopädie".

Die Welt der Encyclopedie. Ed. Anette Selg & Rainer Wieland, Eichborn Verlag 2001.
->   Die andere Bibliothek (Eichborn-Verlag)
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Publikationsgeschichte als Krimi
Um dem heutigen Leser nicht nur eine Vorstellung über die wissenschafts- und kulturhistorische, sondern auch wirtschaftliche Dimension dieses Buchprojekts mit seinen 72.000 Artikeln zu liefern, haben die Herausgeber sorgsam die Publikationsgeschichte der "Encyclopedie" dokumentiert - und diese liest sich wie ein Krimi.
Glänzende Geschäfte
Ursprünglich hatten sich ja ein paar Männer in Paris im Jahr 1745 glänzende Geschäfte ausgerechnet, als sie daran dachten, einem interessierten Publikum das Wissen der Epoche von A bis Z zwischen ein paar Buchdeckeln zu verkaufen.

Um das ganze Projekt so wenig kostenaufwendig wie möglich zu machen, sollte die "Cyclopedia" des Engländers Ephraim Chambers (1728) mit ein paar Ergänzungen übersetzt werden. Doch kaum hatte man das königliche Druckprivileg erhalten, war das Projekt der drei auf Grund krimineller Verstrickungen auch schon wieder gescheitert.
Zwischen Ruhm und Bedrohung für den König

Erst als man dem Pariser Verleger Andre Francois Le Breton das Projekt seitens des Hofes in den Schoß legte, kam die Übersetzung ins Rollen. Doch was ursprünglich als Prestigeprojekt angelegt war, um den Ruhm des Königs zu mehren, wurde wenige Jahre später zu einer großen Bedrohungen.

Denn der ursprünglich von Le Breton als Übersetzer angeheuerte Denis Diderot und der für die naturwissenschaftlichen Belange eingestellte Mathematiker Jean Le Rond d'Almbert wollten es keineswegs bei einer erweiterten Übersetzung der "Cyclopedia" bewenden lassen.

Statt wie Chambers die Theologie als Königswissenschaft herauszuheben, suchten Diderot und d'Alembert für ihr Werk eine neue organische und nach wissenschaftlichen Kriterien organisierte Ordnung des Wissens. Selbstdenker statt Priester sollte die "Encyclopedie" hervorbringen.
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Ein gefährliches Kompendium
Warum war das Wissen der "Encyclopedie" so gefährlich? Der US-Historiker Robert Darnton begründet die Sprengkraft der "Encyclopedie" mit der detektivischen Dechiffrierarbeit, zu der die Leser des Werkes angestiftet wurden. Die ständigen Querverweise in diesem Wissenskompendium waren geradezu ein Imperativ für eine freie wie kritische Geisteshaltung.

Diderot, so Darnton, "tröpfelte seine Gottlosigkeiten" nicht in Texte, wo man diese erwarten würde. In Artikeln über das "Christentum" und die "Dreifaltigkeit" etwa wurde alles Verdächtige vermieden. Dafür fand man im Artikel "Menschenfresser" neben einer nüchternen Beschreibung des Kannibalismus gleichzeitig einen Verweis auf das Thema "Eucharistie".

"Die Gefährlichkeit", so Darnton, "lag in dem Programm, das in diesem Werk verkörpert war: in dem Versuch, das gesamte Wissen der Zeit neu zu strukturieren und die Grenzen zwischen dem Wissbaren und dem Unerforschlichen auf eine Weise zu ziehen, die die Kirche auf den Plan rufen musste."
->   Robert Darnton (Princeton University)
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Die Gegner schlagen zu
Als im Juni 1751 der erste Band der "Encyclopedie" erschien, schlugen die Gegner prompt zu: Jesuiten, Jansenisten, Klerus, Papst und der Rat des Königs fielen über Herausgeber und Autoren her. Dass etwa der Begriff Religion "Aberglauben, oder tatsächlich einen Kult falscher Religion, voll leerem Schrecken" einschloss, war den kirchlichen Vertretern eindeutig zu viel. Ein königliches Edikt verurteilte die Bände I und II wegen unterschiedlicher "Maximen", die darauf abzielten, "die königliche Autorität" zu zerstören.
Mobilisierung von Markt und Geist
Gerade die Skandalisierung des Werkes trug aber zum Verkaufserfolg der "Encyclopedie" bei (auch wenn nicht immer alle Bände erhältlich waren). Statt der ursprünglich geplanten 1.625 Stück hatte man 1754 bereits eine Auflage von 4.255 Stück erreicht.

Darüber hinaus mobilisierte der Druck der "Encyclopedie"-Gegner die Freidenker der Aufklärung. In den kommenden Jahren sollte die "Gesellschaft der Gelehrten" rund um die "Encyclopedie" etwa einhundert Mitarbeiter umfassen - dabei so berühmte Namen wie Rousseau, Montesquieu, Turgot und d'Holbach.
Hexenjagd auf Bücher
Als ein halbverrückter Lakai ein Messerattentat auf König Ludwig XV. verübte, war die Stimmung am Hof hysterisiert. Die Angst vor dem Königsmord und einer Revolution ging um; gestartet wurde eine "Hexenverfolgung" freidenkerischer Druckwerke.

1759 verbot man die Fortsetzung der "Encyclopedie". Erst Mitte der 1760er Jahre konnte diese schließlich erscheinen. Der Erfolg blieb ungemindert - doch das Verlegerkonsortium um Le Breton hatte zahlreiche Druckfahnen von Diderot vorsorglich entschärft.
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Diderot klagt an
"Sie haben mich zwei Jahre lang ununterbrochen auf das Schändlichste betrogen. Sie haben die Arbeit von 20 Ehrenmännern massakriert oder von einem stumpfsinnigen Rohling massakrieren lassen, Männern, die Ihnen Ihre Zeit, Ihre Fähigkeiten, ihre Nächte geopfert haben, ohne Lohn, nur aus Liebe zum Guten und zur Wahrheit." Diderot an Le Breton, 1765.
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Zwischen Neuanfang und Größenwahn
1768 ließ sich Diderot vom Verleger Charles-Joseph de Panckouckes noch einmal für einen Anlauf zu einer neuen, verbesserten Ausgabe "Encyclopedie" überreden. Doch auch dieses Projekt ging durch widerstreitende Interessen zwischen dem Autor und dem Verleger in die Brüche. Diderot schmiss das Projekt entnervt hin, während Panckoucke den großen Neuaufguss mit d'Alembert und Condorcet versuchte.

Das Basteln an der Super-Enzyklopädie blieb aber vorerst unbelohnt, denn für den neuen Verleger eröffneten sich zahlreichen Nebenschauplätze: In Genf druckte man eine verbilligte Quart-Ausgabe der "Encyclopedie" nach und in Amsterdam bemühte man sich um eine Enzyklopädie, die nicht mehr alphabetisch, sondern thematisch organisiert war - so wie es der organische Stammbaum des Wissens von Diderot und d'Alembert ursprünglich vorgesehen hatte.
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25.000 Exemplare bis zur Revolution
In ganz Europa werden von der "Encyclopedie" bis 1789 in verschiedenen Ausgaben 25.000 Exemplare verkauft. Die Pariser Verleger erzielen damit einen Gewinn von 2,5 Mio. Livres.
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Irrgarten statt Methode
Im Nachdruckkrieg um das Erfolgsmodell "Encyclopedie" entschied sich Panckoucke letztlich, die Ideen seiner Gegner aufzukaufen und einen megalomanischen Plan umzusetzen: die "Encyclopedie methodique", die sich um eine Großklassifikation des gesamten Wissens der Epoche bemühte.

Dieses Projekt endete 1791 in einem Irrgarten von 202 Bänden. Der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstandene Wissensschub ließ sich nicht mehr in das Modell der einer Wissensordnung zwängen, wie sie noch zu Beginn des Jahrhunderts geherrscht hatte.

Dass die hohen Ideale der "Encyclopedie" letztlich den Gesetzen des neuen Buchmarktes geopfert wurden, hatte auch Diderot am Schluss einsehen müssen: "Die Encyclopedie war eine Grube, in welche diese elenden Lumpensammler alles durcheinander hineinwarfen - Unverdautes, Gutes, Schlechtes, Abscheuliches, Wahres, Falsches, Ungewisses & das alles ebenso wirr wie unzusammenhängend."

Gerald Heidegger, ORF.at
->   Die "Encyclopedie" im Netz
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Lektüre zum Thema
Auf die Bedeutung der "Encyclopedie" auf dem sich entwickelnden Buchmarkt in der zweiten Hälfte das 18. Jahrhunderts hat Darnton in seinem Buch "Glänzende Geschäfte: Die Verbreitung von Diderots Encyclopedie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn" hingewiesen" (Fischer, FiTb 12335). Ein Abriss Darntons zu Geschichte der "Encyclopedie" findet sich auch in Selgs und Wielands "Welt der Encyclopedie"; diesem sind auch alle Darnton- wie Diderot-Zitate entnommen.

Zum Themen Zensur und literarischer Untergrund im Frankreich des Ancien Regime gilt Darntons "Literaten im Untergrund" (Fischer, FiTb 7412) mittlerweile als sozialhistorischer Klassiker.
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01.01.2010