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Psychologen streiten über 11.September  
  Die Wissenschaftler, die sich mit der Erforschung seelischer Erschütterungen beschäftigen, sind uneins über die Folgen des Terroranschlags in New York. Während die einen von einer weltweiten kollektiven Traumatisierung via Fernsehen sprechen, wiegeln andere ab.  
Ein solcher Schock könne nur persönlich erlebt werden, traumatisiert seien nur die Angehörigen der Opfer oder die Überlebenden, meinen die Gegner der These eines kollektiven Traumas.
"Kleine Kratzer" in der Psyche
Bei den TV-Zeugen hätten die Terroranschläge höchstens ein paar kleine Kratzer in der Psyche hinterlassen.

Bei einer Expertenrunde über das Thema "Psychotrauma und Gewalt" am Donnerstagabend in Frankfurt stellte der Vorsitzende des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts, Thomas Pollak, allerdings eine kühne These auf.
"Massenmorf mit traumaähnlicher Wirkung"
Am 11. September sei erstmals ein Massenmord über die Medien weltweit tausendfach wiederholt worden, und diese "weltweite Zeugenschaft" habe eine "traumaähnliche Wirkung" auf Menschen in aller Welt gehabt.

Besonders gefährlich seien die Bilder für bereits seelisch vorbelastete Menschen gewesen, sie könnten durch die Fernsehbilder "re-traumatisiert" worden sein, so Pollak.
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Traumata und ihre Folgen
Ein Trauma kann entstehen, wenn ein Mensch die Spannung zwischen einer körperlich oder psychisch unerträglich Situation und der Unfähigkeit, darauf zu reagieren, nicht mehr aushält. Das passiert zum Beispiel unter Folter, während einer Vergewaltigung oder bei der Beobachtung eines Mordes. Das Gefühl der Ohnmacht zerstört die Fähigkeit, ein Gefühl der Sicherheit, des Vertrauens wieder herzustellen. Die möglichen Folgen: Depression, Aggression, Angstanfällen, Beziehungsunfähigkeit, Konzentrationsstörungen, Schlaflosigkeit bis hin zu scheinbar unerklärlichen körperlichen Schmerzen.
->   Mehr zu psychischen Traumata
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Kritiker: "Körperlicher Anteil für Traumatisierung notwendig"
Pollaks Darstellung stößt manchen Kollegen sauer auf: Nur bei wenigen Zuschauern dürften die Fernsehbilder solche heftige Folgen gehabt haben, sagen die Kritiker.

Marianne Leuzinger-Bohleber, Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts, wehrt sich dagegen, den Begriff Trauma nach dem 11. September auszuweiten: "Ein eigener körperlicher Anteil am Geschehen ist für eine Traumatisierung absolut notwendig."
Leichte "Kränkung" unserer Gefühlswelt
Micha Brumlik, der sich als Direktor des Fritz-Bauer-Instituts mit der Erforschung des Holocaust beschäftigt, will auf keinen Fall eine Verbindung hergestellt sehen zwischen den Erlebnissen beispielsweise in einem Konzentrationslager und dem Zusammenfallen von zwei Türmen im Fernsehen.

"Was haben wir schon gesehen?", fragt er. "Wir haben kein Blut fließen und niemand sterben sehen." Die Attacke auf das World Trade Center habe höchstens eine leichte "Kränkung" unserer Gefühlswelt bewirkt.
Vertrauen in sichere Umwelt sei zerstört
Immerhin, so meint Pollak, habe die Attacke unser Vertrauen in eine sichere Umwelt zerstört. Das müsse erst einmal verarbeitet werden.

Der Analytiker berichtet von Paaren aus seiner Praxis, bei denen der Streit über die richtige "Deutung" des 11. September tief liegende Konflikte wachgerüttelt und letztlich zur Trennung geführt habe.
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"Strategien der Verarbeitung"
"Strategien der Verarbeitung" sieht Pollak in vielem, was seither auch politisch passierte: Den Wunsch nach einem starken Mann deutet er als Ausdruck für den Wunsch nach Sicherheit. Die These vom Kulturkonflikt ist für ihn einfach ein simples "Erklärungsmuster".
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Vom Trauma auf das auslösende Ereignis schließen
Anders geht der niederländische Traumatologe Bas Schreuder vom Centrum '45 an die strittige Frage heran: Von einem Ereignis auf ein Trauma zu schließen mache wenig Sinn, sagt er und empfiehlt den umgekehrten Weg: Man müsse von einem klinisch beobachten Trauma auf das auslösende Ereignis schließen.

Die Patienten in den Praxen würden also zeigen, ob die Fernsehbilder des 11. September bei manchen Menschen ein Trauma ausgelöst haben oder nicht, meint Schreuder.

(Sandra Trauner, dpa)
->   Frankfurter Psychoanalytisches Institut
->   Sigmund-Freud-Institut
->   Fritz-Bauer-Institut
->   Centrum '45
 
 
 
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01.01.2010