News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Technologie 
 
Der Fotograf des Zaren  
  Sergej Prokudin-Gorskij dokumentierte zwischen 1909 und 1915 im Auftrag von Zar Nikolaus II. die letzten Jahre des russischen Riesenreichs. Jahrzehntelang vergessen, wurden seine Farbfotos unlängst von der Library of Congress in Washington restauriert und im Internet zugänglich gemacht, wie das Universum Magazin in seiner aktuellen Ausgabe berichtet.  
Imperium voller Widersprüche
Russland am Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Imperium voller Widersprüche. In den hintersten Winkeln des Riesenreiches wähnt man sich im Mittelalter, in der Hauptstadt St. Petersburg aber gibt man sich ganz modern.

Man ist fasziniert von der Technik als solcher, mehr als anderswo auf der Welt erliegt man hier - wo die große Mehrheit der Bevölkerung noch lebt, als habe es nie eine Entwicklung weg von der Steinzeit gegeben - dem, was allgemein als technischer Fortschritt verstanden wird.
Ausbildung in St. Petersburg, Berlin und Paris
Bild: Library of Congress
Russische Mädchen in ihrer Tracht, 1909.
In dieser Atmosphäre beginnt der 1863 geborene Sergej Prokudin-Gorskij seine naturwissenschaftlichen Studien am technologischen Institut von St. Petersburg. Vielleicht hatte er damals noch eine rein naturwissenschaftliche Karriere im Sinn, wahrscheinlich aber wollte er bereits etwas anderes.

Denn während er sich in die Geheimnisse der Physik und der Chemie vertieft, versucht er sich zur gleichen Zeit in der kaiserlichen Kunstakademie als Maler. Die Studien im St. Petersburg des ausgehenden 19. Jahrhunderts aber, wo die Technologiegläubigkeit zwar groß, die allgemeine Unwissenheit und Bigotterie aber nicht minder ausgeprägt sind, scheinen ihm nicht zu genügen.

Für zwei Jahre verlässt der noch nicht 30-jährige Mann mit seiner Ehefrau Russland, um seine Ausbildung im auch damals schon so ganz anderen Westen fortzusetzen. Zwei Jahre bleibt er in Berlin und Paris - und hier scheint er seiner wahren Berufung begegnet zu sein, der Fotografie.
...
Die Technik hinter den Bildern 1
Von der Ausrüstung des "Fotografen des Zaren" ist weder die Kamera noch der Projektor erhalten geblieben. Es gibt auch keine Abbildungen von den Geräten, die Eigenkonstruktionen waren. Der Russe dürfte die Technik der Dreifarbprojektion aber bei seinem Berlin-Aufenthalt um 1906 beim deutschen Fotografen Adolf Miethe kennen gelernt haben. Erfunden wurde die komplizierte Methode zur Schaffung von färbigen, projizierbaren Bildern 1881 von einem gewissen Maxwell in London.
...
Technik und Kunst
Bild: Library of Congress
Kloster von St. Nil auf der Insel Stolobnyi, 1910.
Was ihn mehr fasziniert hat, die technischen Möglichkeiten oder die künstlerischen, lässt sich heute nicht mehr sagen, Tatsache ist, dass er sich nach seiner Rückkehr ins St. Petersburg des letzten Zaren, Nikolaus des II., seiner Passion wohl zunächst vor allem vom technischen Standpunkt aus widmet.

Er forscht und entwickelt weiter. Er veröffentlicht technische Aufsätze und Essays und macht sich damit einen Namen. Und er präsentiert seine Forschungsergebnisse regelmäßig vor der kaiserlichen russischen technologischen Gesellschaft in St. Petersburg.

Aber obwohl er seine Erkenntnisse durchaus auch in die Praxis umsetzt, scheint er den Sturm, der sich über dem Russland des beginnenden 20. Jahrhunderts zusammenzubrauen beginnt, nicht wirklich zur Kenntnis zu nehmen.
Blutige Hand im Riesenreich
Und dabei gärt es vor allem im eleganten, relativ fortschrittlichen St. Petersburg, unter den Studenten und wohl auch unter den jungen Adeligen. Revolutionäre Schriften beginnen in bestimmten Kreisen zu kursieren, der Zar aber, unsicher, unentschlossen und kaum vertraut mit der Kunst des Regierens, hält an Althergebrachtem fest - und das bedeutet eine blutige Hand über dem Riesenreich.

Während sich Prokudin-Gorskij dem Studium neuer Methoden der Fotografie hingibt und bei der Weltausstellung 1900 in Paris mit Erfolg Schwarzweißfotos vorstellt, besetzt Russland die Mandschurei, kommt es zum russisch-japanischen Krieg und schließlich zur ersten - noch zum Scheitern verurteilten - Revolution von 1905.
...
Die Technik hinter den Bildern 2
Prokudin-Gorskijs Bilder wirken deshalb so statisch, weil mit dieser frühen Farbfotografie keine Bewegungsaufnahmen gemacht werden konnten. Personen, die porträtiert werden sollten, mussten ruhig halten, denn sie wurden dreimal abgelichtet: Am Objektiv der Kamera wurde zuerst ein Filter angebracht, der nur rotes Licht durchließ. Nach einem ersten Plattenwechsel wurde ein grüner, nach einem erneuten Plattenwechsel ein Blaufilter montiert.
...
Persönliches System der Farbfotografie
Ein Jahr später findet sich unser Held als Chefredakteur der Zeitschrift "Der Hobbyfotograf" wieder. Ein Zeitungstitel, der durchaus auch in die Sowjetunion gepasst hätte.

Prokudin-Gorskij widmet sich weiter der Entwicklung seines ganz persönlichen Systems der Farbfotografie und wird dafür auch gewürdigt. 1906 mit einer Goldmedaille bei der internationalen Ausstellung von Antwerpen und mit einer Medaille des Fotoclubs von Nizza.
Fotografische Erfassung des ganzen Reichs
Bild: Library of Congress
Baumstämme auf dem Kanal Peter I bei Shlisselburg (Petrokrepost), 1909.
Zur gleichen Zeit entsteht in seinem Kopf ein ehrgeiziger Plan, mit dessen Hilfe er endlich seine technischen und seine künstlerischen Ambitionen zu vereinen hofft. Er will das Riesenreich fotografisch erfassen - mithilfe seines neu entwickelten Farbfotografie-Systems.

Es dauert bis 1909, bis Prokudin-Gorskij zu Nikolaus II. vordringt und diesen überzeugen kann. Der Zar, der ganz Europa bereist hat, von seinem eigenen Land eigentlich nur St. Petersburg und Moskau kennt, ist von Prokudin-Gorskijs Plan angetan und stellt ihm einen speziellen Eisenbahnwaggon zur Verfügung.

Und der Künstler und Erfinder macht sich auf die Reise in die Tiefen des Reiches - dorthin, wo sich vor ihm kaum jemand aus St. Petersburg hinverirrt hat.
...
Die Technik hinter den Bildern 3
Die entstandenen Negative wurden umkopiert. Es entstand jeweils ein Diapositiv, das an den Stellen hell war, an denen das Original rot, blau oder grün war. Zu Bildern von erstaunlicher Lebendigkeit wurden die Glasplatten im Format von 76 mal 228 Millimeter Größe erst durch ein urtümliches Projektionsgerät, das ähnlich ausschaut, wie drei übereinander zusammengebaute Diaprojektoren.

Jedes der drei Objektive hat dabei wiederum einen Filter für entweder rotes, grünes oder blaues Licht. Durch die passgenaue Übereinanderprojektion entstand durch die "additive Farbmischung" auf der Leinwand ein Projektionsbild in leuchtenden Farben. Auch die US-amerikanische Library of Congress ging bei der Restaurierung der Bilder ähnlich vor, nur dass die einzelnen Farbauszüge am Computer zu wirklichen Farbfotos montiert wurden.
...
Russland im Winterschlaf
Eine ganze Welt hat Prokudin-Gorskij bei seinen Reisen zwischen 1909 und 1915 festgehalten, eine Welt, die nur noch kurz zu leben hatte. Die Oktoberrevolution bedeutet nicht nur das Ende eben dieser Welt, sie macht auch den Fotografen des Zaren zum Flüchtling.

1918 verlässt er Russland, im Gepäck rund 22 Kisten, in denen er seine Glasplatten-Fotografien und Alben mit Schwarz-weiß-Fotos transportiert. Über Norwegen und England gelangt er nach Frankreich, wo er 1944 stirbt.

1948 verkaufen seine Söhne seine fotografische Hinterlassenschaft an die amerikanische Library of Congress, wo sie einige Jahrzehnte lang im Winterschlaf liegen blieb.
100 Jahre danach: Noch immer gegenwärtig
Bild: Library of Congress
Siedlerfamilie in der Steppe Mugan, ca. 1907.
Erst jetzt hat man die Farbfotografien des Prokudin-Gorskij mithilfe neuer Computertechniken wieder zum Leben erweckt. Fotografien rund um den Beginn des 20. Jahrhunderts - nicht vergilbt und verschwommen, sondern klar - und vor allem in Farbe.

Und obwohl sie vor 100 Jahren aufgenommen worden sind, erscheinen sie doch sehr gegenwärtig.

Den drei Mädchen in ihrer Tracht könnte man - ein bisschen anders gekleidet - auch heute noch in jeder russischen Stadt begegnen (Bild oben). Ebenso wie der Siedlerfamilie vor ihrem Haus (Bild rechts).

Der Erfinder und Künstler aber ist von der Politik, für die er sich nie interessiert zu haben scheint, überrollt und von der Geschichte vergessen worden. Bis jetzt, da die moderne Technik ihm spät, aber doch zu gebührenden Ehren verhilft.

Ein Beitrag von Susanne Scholl für das Universum-Magazin
->   Die Fotos auf der Website der Library of Congress
->   Die Geschichte in der New York Times (subskriptionspflichtig)
->   Universum-Magazin
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Technologie 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010