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Seelische Vivisektion oder Wissenschaft vom Menschen?  
  Über das Verhältnis von Psychologie und Philosophie wurde und wird noch immer teils leidenschaftlich diskutiert. Die Schweizerische Gesellschaft für Philosophie nahm sich dieses Themas jetzt in Biel im Rahmen eines Symposions an.  
Diese unterschiedliche Haltung der beiden Wissenschaften gegenüber der menschlichen Seele war das Thema , an dem Psychologen, Philosophen und Psychotherapeuten über die Geschichte und Motive der Trennung und über eine mögliche Annäherung diskutierten.
Konkurrenz-Verhalten
Die Beziehung der Philosophie zur Psychologie zeichnet sich durch ein Konkurrenzverhalten aus. Beide Wissenschaften analysieren zwar die Psyche des Menschen, befassen sich mit seinen Wahrnehmungen, Erkenntnisleistungen und Empfindungen, gehen aber von unterschiedlichen Voraussetzungen aus.

Während die klassische Philosophie - von Aristoteles über Descartes bis Hegel ein geschlossenes metaphysisches System errichtet hat, in dem die psychischen Komponenten des Menschen einen bestimmten Stellenwert einnehmen, versucht die wissenschaftlich ausgerichtete Psychologie diese Faktoren empirisch zu bestimmen.
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'Seelische Vivisektion'
Robert Musil sprach in diesem Zusammenhang von der "seelischen Vivisektion" der Psychologie, die er "der philosophischen Wissenschaft vom Menschen" gegenüberstellte. Die Trennung der Psychologie von der Philosophie erfolgte in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, in denen sie sich als eigene Forschungsdisziplin etablierte hatte. Bis dahin war sie ein Bestandteil der philosophischen Reflexionen. In diesen Jahren orientierte sich die Psychologie an den Idealen der zeitgenössischen Naturwissenschaften: Das Ziel war die objektive Messung psychischer Erscheinungen, um - nach dem Vorbild der Naturwissenschaften - allgemein gültige Gesetze formulieren zu können.
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Psychologie als empirische Wissenschaft ein männliches Projekt?
Als eigentlicher Begründer der akademischen Psychologie gilt Wilhelm Wundt, der von 1832 bis 1920 gelebt hat. Nach einem Studium der Medizin und Philosophie arbeitete er als Assistent des Philosophen Hermann von Helmholtz.

In seinen "Vorlesungen über die Menschen und Tierseele" unternahm er den ersten Versuch, die Psychologie mit naturwissenschaftlichen, experimentellen Methoden zu betreiben.

Nach seiner Berufung nach Leipzig beteiligte er sich an der Erforschung der Sinnesphysiologie, die Sinneseindrücke und Bewusstseinsvorgänge mit Hilfe von eigens konstruierten Apparaten untersuchen sollte, wie die in Berlin lebende Psychologin und Philosophin Nicole Schmidt ausführte.
Bahnbrechende Leistungen
Wundts sinnesphysiologischen Untersuchungen wurden von seinen Zeitgenossen als bahnbrechende, wissenschaftliche Leistung anerkannt. Die Wechselwirkung zwischen physikalischer Welt und den Sinnen sollte mittels Experimenten erforscht werden.

Diese Psychophysik führte das Experiment als Methode ein, um die Seele, die sie als einen mechanischen Apparat ansah, genauer bestimmen zu können. Auf der Strecke blieb dabei genau diese 'Seele', wie sie bis dahin von den meisten Philosophen verstanden wurde; nämlich als komplexes Gebilde, das auf rätselhafte Weise die verschiedenen Vermögen des Menschen zu einer einheitlichen Steuerungsinstanz verbindet.
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'Psychophysik ist männlich'
Die Psychophysik, dieses Paradebeispiel der akademischen Psychologie, das durchaus als Ideal für andere Wissenschaften fungierte, ist für die in Bern praktizierende Psychotherapeutin Carola Meier-Seethaler und Nicole Schmidt Ausdruck eines männlichen Projekts der Wissenschaft, das besonders deutlich im 19. Jahrhundert formuliert wurde. Um überhaupt noch ernst genommen zu werden - so argumentiert sie - passte sich die akademische Psychologie dieser Epoche den Naturwissenschaften an. Sie entwickelte eine vergleichbar exakte Methode, die sich nur mehr auf messbare Daten oder statistische Ergebnisse stützte.
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Subjektive Erfahrungen ausgeklammert
Subjektive Erfahrungen wurden bei der wissenschaftlichen Versuchsanordnung ausgeklammert. Es zählten die überprüfbaren Fakten. Diese Anordnung schützte die Forscher davor, sich emotional auf den Untersuchungsgegenstand einzulassen.

Diese Art von Wissenschaft wurde abstrakt, kalt und trocken, bemerkte ein ebenfalls wissenschaftskritischer Autor, nämlich Friedrich Nietzsche: "Sie ist sich selbst ebenso nützlich, als sie ihren Dienern schädlich ist", bemerkte er und fügte hinzu: "Es ist erstaunlich, wie der Mensch bei einer solchen Tätigkeit ausdorrt und nur noch mit den Knochen klappert".
Behaviorismus als objektive Wissenschaft
Noch weiter entfernte sich der Behaviorismus von der Seele des Menschen. Der Behaviorismus verstand sich als rein objektive Naturwissenschaft, die sich um eine Prognostik des menschlichen Verhaltens bemühte.

Der amerikanische Psychologe John Watson, der am Entstehen des Behaviorismus entscheidend beteiligt war, konnte sich innere, psychische Prozesse nicht erklären. "Ich gestehe, ich weiß nicht, was sie bedeuten" so schrieb er ¿ "noch glaube ich, dass irgend jemand in der Lage ist, sie zu benutzen".
Bewusstsein als Black Box
Er bezeichnete das Bewusstsein als Black Box, in der aus unerklärlichen Gründen nach dem Input gewisser Reize ein Output an bestimmten Verhaltensweisen erfolgt.

Für Eduard Marbach, Professor für Philosophie an der Universität Bern ist der Behaviorismus gleichsam der Nullpunkt einer Wissenschaft, die sich eigentlich um die seelischen Vorgänge und Bewusstseinsakte kümmern sollte.
Gegen die Reduktion
Gegen diese Reduktion der akademischen Psychologie auf eine Beobachtungswissenschaft wandten sich bereits um die Jahrhundertwende so unterschiedliche Philosophen wie Wilhelm Dilthey oder Edmund Husserl.
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Wider die 'Vernaturwissenschaftlichung'
Dilthey sprach von einer "Vernaturwissenschaftlichung" und formulierte den Satz: "Die Natur können wir erklären, die Seele wollen wir verstehen". Edmund Husserl startete in seinem Buch "Logische Untersuchungen" einen Generalangriff gegen den damals herrschenden "Psychologismus." Seine Vertreter - laut Husserl ¿ "experimentelle Fanatiker" hatten nach ihrem Erfolg in der empirischen Untersuchung von Sinneseindrücken und Bewusstseinsvorgängen die Absicht, auch andere Gebiete der Philosophie wie Ethik oder Logik psychologisch zu deuten.
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Ansätze für eine Versöhnung von Philosophie und Psychologie
Die oft subtilen und komplexen Überlegungen zur Trennung von Psychologie und Philosophie bildeten gleichsam einen zentralen Aspekt des Symposions in Biel. Eine zweiter, ebenso wichtiger Gesichtspunkt war eine mögliche Annäherung von Philosophie und Psychologie.

Dabei kam es bald zu einer grundsätzlichen Übereinstimmung. Annähern könnten sich nur jene Traditionen der Psychologie und Philosophie; die sich nicht die "harten Naturwissenschaften" zum Vorbild genommen haben; sondern die konkrete Existenz der Menschen in den Vordergrund rücken.
Entwürfe für ein geglücktes Leben
Gemeint sind dabei von Seiten der Psychologie unterschiedliche Formen der Psychoanalyse oder der Psychotherapie.

In der Philosophie kommen hauptsächlich antike, praktische Philosophie, Philosophie der Lebenskunst oder philosophische Diskussionsrunden in Kaffeehäusern in Frage, deren Grundanliegen der in Paris lebender Philosoph Daniel Ramirez beschrieb.

Es handelt sich dabei um eine praktische Philosophie, die Entwürfe für ein gelungenes, geglücktes Leben vorlegt und darüber nachdenkt, welche Faktoren für ein "gutes Leben" des Menschen entscheidend sind.
Versöhnung von Gefühlen und Vernunft
Diese angestrebte Synthese von Philosophie und Psychologie bemüht sich auch um eine Versöhnung von Gefühlen und Vernunft.

Emotionen und Kognition schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander - so die Psychotherapeutin Carola Meier-Seethaler, die diese Thematik in ihrem Buch "Gefühl und Urteilskraft. Plädoyer für eine emotionale Vernunft" behandelt.
Wenig Raum für Gefühle
Die abendländische Tradition der Philosophie lässt - bis auf wenige Ausnahmen - den Affekten, Leidenschaften und Obsessionen wenig Raum. "Affekten und Leidenschaften unterworfen zu sein" - so formulierte Immanuel Kant ¿ "ist wohl immer eine Krankheit des Gemüts."

Die Vernunft fungierte in der Regel als oberstes Prinzip; Emotionen wie Freude, Liebe, Aufregung oder Begehren nach Sexualität wurden dem animalischen Bereich des Körpers zugeordnet, den es zu bekämpfen oder zumindest einzudämmen galt.
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Gefürchtet Emotionen
Die Emotionen wurden wegen ihrer Heftigkeit gefürchtet - so der in Lausanne lehrende Philosoph Pierre-Andre Stucki. Er bezeichnete die Emotionen als "vulkanisches Element" und verglich das Auftreten von Emotionen mit dem Aufbrechen der Erdkruste, die unter dem plötzlichen- Druck der darunter liegenden Lavamassen zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort birst. Das vertraute rationale Ordnungsschema, das dem Individuum eine gewisse Kontinuität vorgaukelt, das auch ein Gefühl der Sicherheit vermittelt, erfährt dabei eine tiefe Erschütterung.
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Psychotherapie als Synthese von Philosophie und Psychologie?
Der konkrete Ort einer Versöhnung von Philosophie und Psychologie ist für Christoph Helferich die Psychotherapie. Helferich, der als ausgebildeter Philosoph und Psychotherapeut eine Praxis in Florenz betreibt, versteht sich im Sinne von Carl Gustav Jung als philosophischer Arzt, der die Lebensferne der universitären Philosophie und Psychologie bekämpft.

Der wesentliche Punkt einer erfolgreichen Therapie ist laut Helferich "das Aushandeln von Nähe". Die psychische Kontaktlosigkeit - der gemeinsame Nenner all der Probleme, die zur Behandlung führen - sollte durch die Präsenz des Therapeuten eingedämmt werden.
'Meer von Gefühllosigkeit'
Besonders stark ausgeprägt ist diese Kontaktlosigkeit bei depressiven Menschen, wie der in Zürich lehrende Psychiater Daniel Hell in seinem Vortrag ausführte. Die depressive Gestimmtheit, ein "Meer von Gefühllosigkeit" illustriert ein Zitat von Sören Kierkegaard.

"Es kommt mir so vor", - so notierte er in seinem Tagebuch ¿ "als wäre ich ein Galeerensklave, zusammengekettet mit dem Tod. Jedes Mal, wenn das Leben sich rührt, rasselt die Kette und der Tod lässt alles hinwelken".
'Existenzielle Ausstattung'
Hell wies nun darauf hin, dass Kierkegaard das Gewicht seiner Leidenszustände zutiefst empfand, sie jedoch gleichzeitig als "existenzielle Ausstattung" seiner Persönlichkeit ansah, die er intellektuell nicht auflösen konnte.

Der Existenzphilosoph nobilitierte gleichsam die Schwermut; sah darin eine Auszeichnung - und kam zum Schluss: "Wer die Bitterkeit der Verzweiflung noch nicht geschmeckt hat, verfehlt die Bedeutung des Lebens".

Sich selbst zu akzeptieren - so lautet die Folgerung Hells - ist die grundlegende Voraussetzung, um auf andere Menschen zugehen zu können.
Körperliche UND emotionale Befindlichkeit
Eine Psychotherapie, wie sie Hell und Helferich vertreten, geht auch auf die körperliche und emotionale Befindlichkeit des Klienten ein.

Dabei können die körperorientierten Therapien Anleihen bei Philosophen wie Friedrich Nietzsche oder Ludwig Feuerbach nehmen, die im Gegensatz zu ihren akademischen Fachkollegen die Bedeutung des Leibes immer hervorgehoben haben.
Ein gelungenes Leben als höchstes Ziel
Ein gelungenes Leben - darüber sind sich die Psychiater Hell und der Philosoph und Psychotherapeut Helferich einig, ist wohl das höchste Ziel, das Philosophie und Psychologie anstreben können.

Ein gelungenes Leben, das Emotionen und Vernunft versöhnt, beinhaltet dann jenen Zustand, den Friedrich Nietzsche als "intelligente Sinnlichkeit" bezeichnete.

Diese "intelligente Sinnlichkeit" entzieht sich den Forschungsmethoden der akademischen Psychologie und Philosophie. "Intelligente Sinnlichkeit" kann weder durch eine "Vivisektion der Seele" erforscht noch durch eine "Wissenschaft vom Menschen" definiert werden.

Ein Beitrag von Nikolaus Halmer für die Ö1-Dimensionen, 19.00.
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01.01.2010