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Völkermord: Zwei Erklärungsansätze  
  Geschätzte 160 Millionen Menschen haben im 20. Jahrhundert aufgrund von Völkermord ihr Leben gelassen. Zwei Ansätze, dieses Unbegreifliche zu begreifen, wurden am Beginn des Ö1-Symposions "Völkermord - Geschichte und Prävention" erläutert: das kollektive "emotionale Gedächtnis", in dem eine Vielzahl negativer, schwer zu ändernder Gefühle verankert sind, und die fatale Kombination vom Triumph des Überlebens und absoluter Macht.  
Das "warum" und "wie verhindern"
ORF-Hörfunkintendant Manfred Jochum stellte in seiner Begrüßungsrede die beiden Hauptfragen des Genozid-Symposions: "Was bringt Menschen dazu, Gräueltaten zu begehen?" und "Wie können sie verhindert werden?"

Erich Loewy, Bioethiker und Mitinitiator des Symposions, versuchte darauf Antworten zu geben und den Unterschied zu skizzieren zwischen "Menschen, die Täter sind, Menschen, die zu- oder wegschauen, und Menschen, die sich aktiv gegen das Übel stellen."
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Ö1-Symposion: Völkermord - Geschichte und Prävention.
8. und 9. 11. 2001, Beginn: 9.00 Uhr
RadioKulturhaus, Argentinierstrasse 30 A
1041 Wien
Veranstaltet in Kooperation mit der Stadt Wien und der hans jonas gesellschaft sowie mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur.
Auskünfte: Ö1 Servicenummer 501 70 371
e-mail: symposien@orf.at
->   Programm, Referenten und Abstracts des Ö1-Symposions
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Das emotionale Gedächtnis
Der jedem Völkermord zugrunde liegende Rassismus hänge mit dem "emotionalen Gedächtnis" zusammen. Im Gegensatz zum kognitiven Gedächtnis werde dieses schon sehr früh in der Entwicklung eines Menschen ausgebildet. Jene Dinge, die ein Kind "gefühlsmäßig" lernt, sind später nur schwierig zu ändern.

Dies, so Loewy, der von den Nazis vertrieben wurde und nun an der University of California, Davis lehrt, gelte für Individuen genau wie für Gesellschaften. Ähnlich dem Rousseauschen "volonté génerale", dem allgemeinen Willen einer Gemeinschaft, gebe es auch eine "mémoire emotionelle génerale" - ein allgemeines emotionales Gedächtnis, das sich in einer bestimmten Gesellschaft entwickelt hat und nur langsam verändert werden kann.
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Beispiel: Antisemitismus
Ein Beispiel für die tiefe Verankerung von Emotionen sei der Antisemitismus, der seit über tausend Jahren von den Kirchen gepredigt wurde und sich nun tief im Unterbewusstsein der Bevölkerung befinde. Das Unbehagen gegenüber Juden oder "dem Anderen" führe unter konkreten historischen Umständen über soziale Ausgrenzung und physische Ghettoisierung bis zur kompletten Vernichtung ganzer Gruppen.
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Nicht auch noch an die Kinder weiter geben
Um den Tätern und Mittätern an Völkermorden zu begegnen, setzt Loewy trotz aller Schwierigkeiten auf die Umgestaltung des emotionalen Gedächtnisses. Wenn das nicht funktioniert, "sollten wir uns dessen bewusst sein und versuchen, es nicht unseren Kindern zu vermitteln".

Um Österreich, das er nach wie vor "liebt", hat Loewy Angst. "Der grassierende Fremdenhass, der von Parteien wie der FPÖ geschürt wird, stellt eine Gefahr dar, die wir als Bedrohung unserer Gesellschaft begreifen sollten."
->   Erich Loewy in science.orf.at
Canetti: Macht und Überlebenswunsch
Einen anderen Erklärungszugang zum Phänomen "Genozid" wählte der Psychotherapeut Alan Jacobs. Unter Verweis auf Elias Canetti diagnostizierte er als zentrales Element von Völkermorden das Zusammenwirken von absoluter Macht, dem Verlangen nach Einsamkeit und dem Triumph des eigenen Überlebens.

Im Anschluss an Erich Fromm definierte Jacobs eine gewisse Menschengruppe als "todesverliebt": Die "Liebe zum Tod" gäbe es in verschiedenen Schattierungen und reiche vom simplen Wohlgefühl bei Begräbnissen bis zu den Allmachtsphantasien von Serienmördern oder Diktatoren.
Zerstörerische Meister
Verbindendes Element sei der "Triumph des Überlebens", ein intensives Lebensgefühl angesichts drastisch vor Augen geführter Endlichkeit.

Manche Menschen - "zerstörerische Meister", um die sich viele andere scharen - wollen dieses mächtige Gefühl so lange wie möglich ausleben und benötigen dafür den Tod der anderen, willentlich durch eigenen Taten oder Befehle herbeigeführt. Dadurch werde ihre Macht, ihre Überlebens-Macht gestärkt.
Streben nach dem absoluten Nichts
Am Beispiel Hitlers und Stalins zeigte Jacobs, wie sich dieser Wahnsinn - das Töten-Müssen, um das eigene Überleben zu demonstrieren - bis zu "Säuberungen" im engsten Familien- oder Freundeskreis steigern konnte.

Dahinter stehe die Sehnsucht nach absoluter Einsamkeit, das Streben nach dem Nichts. Verknüpft mit der absoluten Macht totalitärer Staaten können Genozide die Konsequenz sein.
->   Mehr über den Vortrag von Alan Jacobs
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Völkermord in Amerika
David Wilkins, Professor für American Indian Studies in Minnesota, beleuchtete den Völkermord an der amerikanischen Urbevölkerung vom Beginn der Kolonialisierung durch die Staaten der "modernen, zivilisierten Welt" bis heute. Durch Ermordung, Versklavung und zum Teil absichtlich eingeschleppten Krankheiten ist die Zahl der indigenen Völker in Nord- und Südamerika seit dem 15. Jahrhundert um 95 Prozent gesunken.

In den USA werden heute nur noch vier Prozent der ursprünglichen Heimat von den 561 Indigene Stämmen kontrolliert. Seit den Terroranschlägen vom 11. September hätten sich die Bedingungen für die indigene Bevölkerung erneut verschlechtert, so Wilkins.
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Kambodscha: "Social Engineering"
Aus gegebenem Anlass nannte der Anthropologe Alex Hinton seinen Vortrag "Genocidal Terror" und hellte anhand der jüngsten Geschichte Kambodschas eine Reihe weiterer Aspekte von Völkermord auf.

Das Schreckensregime der Roten Khmer betrieb von 1975-1979 eine Art "social engineering": den Versuch einer Veränderung einer ganzen Gesellschaft auf Basis einer aus ihrer Sicht umfassend Erklärung bietenden Ideologie, einer Mischung aus Marxismus-Leninismus, Maoismus und anderem.

Mit blankem Terror - der von permanenter Überwachung über Umerziehung bis zur physischen Liquidation Hunderttausender reichte - sollten utopische Ziele erreicht werden.
->   Mehr über den Vortrag von Alex Hinton
Die Vernunft ist leise
Ob jener alte Spruch der Hoffnung angesichts dieser und anderer Horrorszenarien im weiteren Verlauf des Symposions noch Auftrieb bekommt, bleibt abzuwarten. ORF-Hörfunkintendant Jochum brachte ihn in seiner Begrüßungsrede jedenfalls zum Ausdruck: "Die Stimme der Vernunft ist leise, aber sie wird sich durchsetzen."

Lukas Wieselberg, science.orf.at
 
 
 
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01.01.2010