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Zerstreute Aufmerksamkeit als Dauerproblem  
  Immer häufiger kommen in Praxen von Psychotherapeuten Menschen, denen die Diagnose "AufmerksamkeitsDefizit-/ HyperaktivitätsStörung" gestellt wird. Experten warnen vor der Unterschätzung des Syndroms, das jetzt immer häufiger auch bei Erwachsenen zu beobachten ist.  
Historischer Vorläufer: Der Zappel-Phillipp
Bei Kindern ist diese Störung schon sehr lange bekannt. Vor fast 150 Jahren beschrieb sie skizzenhaft der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann in seinem weltberühmt gewordenen Kinderbuch "Der Struwwelpeter" - in Gestalt des Zappel-Philipp.

Neuerdings gibt es jedoch in Fachzeitschriften auch Beschreibungen und Deutungen des facettenreichen Phänomens bei Erwachsenen, darunter Berichte im Magazin "Psychologie heute" (Weinheim).
Neurobiologische Grundstörung
Das Gemenge aus mangelnder oder wahlloser Aufmerksamkeit, Unkonzentriertheit, Desorganisation, Hippeligkeit und innerer Unruhe tritt immer mehr auch bei Erwachsenen in Erscheinung. Nicht eindeutig ist allerdings, ob die den Symptomen zu Grunde liegende neurobiologische Grundstörung bei ihnen häufiger oder nur auffälliger geworden ist.
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Symptome müssen ausgeprägt sein
Zwar ist "eine gestörte, flüchtige Aufmerksamkeit gewiss als Phänomen unserer Zeit anzusehen", sagt der Psychologe Friedrich Linderkamp (Dortmund). Doch von einem "klinischen" Störungsbild könne erst dann die Rede sein, wenn die Symptome sehr ausgeprägt sind, situationsübergreifend vorkommen, im Beruf und Privatleben, schon in der Kindheit vorhanden waren und wenn sie bei dem Betreffenden einen erheblichen Leidensdruck erzeugen.
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Reizoffenheit und Impulssteuerungsschwäche
Die Kernsymptomatik von ADHS ist eine extreme Reizoffenheit und Impulssteuerungsschwäche. "Je besser die Forschung das Störungsbild ersteht, desto offenkundiger wird, dass ADHS auf einer Andersartigkeit bestimmter Hirnfunktionen beruht, die eine abweichende Steuerungsdynamik zur Folge hat", konstatiert die Psychotherapeutin Cordula Neuhaus (Esslingen).

"So 'springt' das Gehirn offensichtlich nur auf neu, interessant oder spannend empfundene Reize an - ansonsten scheint es auf 'Standby' zu schalten."
Positive Eigenschaften: Fantasie, Kreativität
Die aus der Kindheit überdauernden Störungen können infolge von Begabungsunterschieden, unterschiedlicher Bildung und psychosozialen Einflüssen zu ganz verschiedenen Lebensläufen führen - oft schwierigen, teils aber auch sehr erfolgreichen. ADHS-Symptome gehen oft mit positiven Eigenschaften wie ausgeprägter Fantasie, Kreativität, Improvisationsfähigkeit und interessierter Offenheit einher.

Der Medizinprofessor Hans J. Bochnik (Frankfurt am Main) erwähnt, dass auch der berühmte amerikanische Politiker und Naturwissenschaftler Benjamin Franklin, ferner Albert Einstein, Winston Churchill und Bill Clinton als Kinder hyperkinetisch (zappelig) und hyperaktiv gewesen sein sollen.
Fließende Übergänge
Der Mediziner Peter Berressem (Marburg) bemerkt: "Bei einem großen Teil der betroffenen Kinder verlieren sich solche Symptome im Laufe der Pubertät. Jugendliche lernen nach der Pubertät auch, besser zu fokussieren", also die Aufmerksamkeit zielgerichteter zu lenken. Im übrigen scheinen Berressem in manchen Lebensbereichen die Übergänge zwischen Impulsivität und ADHS durchaus fließend zu sein.
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Therapie
Was die Therapie von ADHS angeht, so haben Medikamente deutliche Besserungen verschafft. Jahrelange Erfahrung zeigt aber, "dass häufig flankierend zum Einsatz von Stimulanzien (mit den Pharmanamen Ritalin und Medikinet) eine engmaschige verhaltenstherapeutische Begleitung unverzichtbar ist", sagt Cordula Neuhaus.
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Modediagnose ADHS?
Der Medizinprofessor Michael Hertl (Mönchengladbach) macht darauf aufmerksam, "dass es bei Syndromen notwendig ist, in jedem einzelnen Fall möglichen Ursachen somatischer und psychologischer Art nachzugehen".

Er hat den Eindruck, "dass ADHS so etwas wie eine Modediagnose für ein Gemenge von Störungen sowohl motorisch- kinetischer wie auch geistiger Art geworden ist." Speziell bei Erwachsenen scheint ihm noch eingehendere Forschungsarbeit gefragt.
->   Hyperaktivität: Hilft die umstrittene "Psychopille"?
 
 
 
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01.01.2010