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Holocaust: Chiffre für Universalität der Menschenrechte  
  Die unterschiedlichen nationalen Gedächtniskulturen zum Holocaust beginnen sich aus ihren nationalstaatlich geprägten Kontexten heraus- und zugunsten einer universalen oder "globalisierten" Erinnerungskultur aufzulösen, in welcher der Holocaust als Chiffre für die Universalität der Menschenrechte und des "Kosmopolitismus" fungiert.  
Diesen Prozess der allmählichen Universalisierung der Holocausterinnerung beschreiben Daniel Levy und Natan Sznaider in ihrer Studie "Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust", die nun im Suhrkamp Verlag erschienen ist.
"Ortlose Erinnerung", Mahnung an Menschenrechte
Der Holocaust, so ihre These, ist zum Paradigma für die "ortlose Erinnerung" in einer globalisierten Welt geworden - eine Entwicklung, die beide Soziologen bei aller Ambivalenz positiv bewerten: "Der Holocaust bestimmt die Parameter entorteter Erinnerungslandschaften in der Zweiten Moderne, wird zu einem Modell der nationalen Selbstkritik, dient der Verbreitung von Menschenrechten als legitimatorischem Prinzip in der Weltgesellschaft und wirkt als negative Erinnerung an den Umgang mit Alterität schlechthin."
Kosmopolitische Globalisierung

Der von Ulrich Beck entlehnte Begriff der "Zweiten Moderne" verweist bereits darauf, dass es Daniel Levy und Natan Sznaider nicht oder nicht nur darum geht, den historischen Arbeiten zu Erinnerung und Gedächtnis, die gegenwärtig eine bemerkenswerte Konjunktur erleben, noch eine weitere hinzuzufügen.

Vielmehr wollen sie zeigen, dass Globalisierung nicht nur ein wirtschaftliches Phänomen ist, sondern vielmehr auch ein kulturelles, und in diesem Sinne Bedeutungsverschiebungen hervorbringt, die sich - insbesondere im Falle der Erinnerung an den Holocaust - den nationalstaatlichen Gedächtnismonopolen wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet haben entziehen.

Diese Verschiebungen verleihen der "Zweiten Moderne" ihre spezifische Gestalt. Diese, so die hoffnungsfrohe Botschaft Levys und Sznaiders, ist postheroisch und kosmopolitisch. Die Erzählung von Tätern und Helden der Ersten Moderne wird durch die Erzählung der Opfer in der Zweiten Moderne ersetzt. In seiner verallgemeinerten Form wird der Holocaust zu einem moralischen Imperativ, der jede Gesellschaft auf die Achtung der Menschenrechte verpflichtet.
Nach der Instrumentalisierung?
Anders als es üblicherweise in der Geschichtswissenschaft und Soziologie geschieht, werden hier Holocausterinnerung und Gedächtnis auf ihren emanzipatorischen politischen Gehalt hin geprüft. Eine Interpretation, die so noch vor einigen Jahren nicht möglich gewesen wäre, hätten die beiden Autoren damit doch - insbesondere in Deutschland und Österreich - den Vorwurf auf sich gezogen, den Holocaust zu instrumentalisieren oder anders gesagt, Instrumentalisierungen des Holocaust zu rechtfertigen.

Erinnert man sich - auch Levy und Sznaider selbst diskutieren dies - an die in Deutschland geführten Debatten um den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo, der unter anderem durch die Gleichsetzung des ethnischen Krieges gegen die Kosovaren mit dem Holocaust gerechtfertigt wurde, so fällt es in der Tat schwer, hier keine Instrumentalisierung zu erblicken.

Denn anders als Levy und Sznaider argumentieren, liegt der Sinn dieser Verwendung des Holocausts vielleicht nicht in der Universalisierung der Menschenrechte, sondern darin, politische Auseinandersetzungen in moralische Dilemmata zu überführen und bereits gefällte Entscheidungen zu legitimieren.
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Partikularismus und Universalismus
Entlang der Unterscheidung von Partikularismus und Universalismus untersuchen Levy und Sznaider die kollektive Holocausterinnerung in Israel, Deutschland und den USA. Diese drei Gesellschaften stehen exemplarisch für bestimmte Erinnerungsformen: In den drei Gesellschaften hatten die beiden Begriffe eine ganz unterschiedliche Bedeutung und Funktion - Unterschiede, die sich nun aufzulösen beginnen.
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Erinnerung in den USA
Die USA haben, so Levy und Sznaider, bezogen auf den Holocaust eine universalistische Erinnerungskultur herausgebildet. Sie konnten sich in den ersten Nachkriegsjahren als "Retternation" imaginieren und interpretierten den Holocaust nicht so sehr als ein Verbrechen an den europäischen Juden, sondern als ein Verbrechen gegen die Menschheit im Allgemeinen.

Eine Sichtweise, die sich auch bei Hannah Arendt ("Eichmann in Jerusalem") wiederfindet. Später wurde der Holocaust zunehmend mit Rassismus in Verbindung gebracht und das Leiden der Schwarzen und der Juden wurde parallelisiert.

Dieser neuerliche Universalisierungsschub nimmt bereits die Selbstreflexion auf, die zur Grundlage für jene Universalität wird, die Sznaider und Levy für die Gegenwart konstatieren.
Vom Guten und vom Bösen
Die USA sind es aber auch, die den Holocaust zu einem Medienereignis und einem konsumierbaren Produkt machten: Filme wie die Serie "Holocaust", die Ende 1970er-Jahre gezeigt wurde, und "Schindlers Liste" (1993) zeigten den Holocaust entsprechend der universalistischen Interpretation als Verbrechen an der Menschheit: Der Zuschauer sollte sich mit den Opfern identifizieren. Der Holocaust wird zu einer Erzählung vom Kampf des Guten gegen das Böse.

Diese massenmediale Aufbereitung des Holocaust deuten Levy und Sznaider aber nicht als unzulässige Trivialisierung: Die Aufhebung des Bilderverbots habe vielmehr zu einer Demokratisierung und Emotionalisierung der Holocausterinnerung beigetragen und der Geschichtswissenschaft im Kampf um das Deutungsmonopol den Rang abgelaufen.

Universalismus und Partikularismus nähern sich in dieser Lesart an: Jeder und jede kann sich mit den jüdischen Opfern identifizieren. Das Einzelschicksal repräsentiert ein verallgemeinertes Opfer.
Erinnerung in Israel
Der Umgang Israels mit dem Holocaust ist, so schreiben Levy und Sznaider, von Anfang an von einer ambivalenten Haltung geprägt: Als Folge der negativ bewerteten jüdischen Exilexistenz bemühte man sich um Distanz zur Leidensgeschichte der europäischen Juden. Gleichzeitig aber legitimierte dieselbe Erfahrung die Militarisierung der israelischen Gesellschaft.

Der Eichmann-Prozess markiert für Levy und Sznaider die Auflösung dieser Ambivalenz zugunsten einer partikularistischen Interpretation, dem ein Universalismus entgegengesetzt wird: Hier geht darum, die Staatsgründung zu entmythologisieren und einen kritischen Diskurs zur israelischen Politik gegenüber den Palästinensern zu etablieren.
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Globalisierte Diaspora
Damit verbunden ist eine Aufwertung der jüdischen Diaspora: Ort- und Staatenlosigkeit, Kosmopolitismus werden als positive Erfahrungen rehabilitiert, die bereits, so wollen es zumindest Levy und Sznaider, die Globalisierung als allgemeine Entortungserfahrung vorwegnimmt. Für die beiden Autoren war der Holocaust damit auch ein Angriff auf den Kosmopolitismus und geht als solcher in die globalisierte Erinnerung ein.
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Erinnerung in Deutschland
Die deutsche Erinnerungskultur bewegt bzw. bewegte sich, so sehen es Levy und Sznaider, zwischen Partikularität und Universalität hin und her. Ganz anders als in den USA lassen sich beide Positionen dem linken oder rechten politischen Lager zuordnen, sie sind mit ganz anderen Bedeutungen besetzt.

In den ersten Jahren dominierte das kollektive Beschweigen des Holocaust. Eine Haltung, die auch durch die Nürnberger Prozesse nahegelegt wurde, denn diese ordneten den Holocaust den Kriegsverbrechen unter. Als solcher kam der Holocaust in den öffentlichen politischen Debatten nicht vor, vielmehr bemühte man sich um eine Differenzierung von "Nazis" und "normalen Deutschen", die als Opfer des Nationalsozialismus dargestellt wurden.

Diese spezifisch deutsche Variante der universalistischen Interpretation ist - anders als in den USA und Israel - mit Verdrängung, Leugnung und Revisionismus verknüpft.
Die Einzigartigkeit des Holocaust
Erst in den siebziger Jahren wurde der Holocaust und zwar in seiner "Einzigartigkeit" Teil der kollektiven Erinnerung Deutschlands. Der Eichmann-Prozess und später die so genannten "Verjährungsdebatten" führten zu einer Institutionalisierung des Erinnerungsgebotes.

Vorausgegangen waren auch die Kämpfe von 1968, die zum ersten Mal die Frage nach der persönlichen Verantwortung der Elterngeneration aufwarfen und die personelle Kontinuität des Nationalsozialismus innerhalb der politischen Elite der Bundesrepublik kritisierten.

Die Konzeption der Einzigartigkeit des Holocaust bzw. der Partikularismus diente dazu, die kollektive Verantwortung der Deutschen bzw. Deutschlands einzuklagen.
Das Ende der Nachkriegszeit
Diese Unterschiede zwischen Partikularismen und Universalismen, so die These des Buchs, werden in einer globalisierten Erinnerungskultur angeglichen - zugunsten eines "amerikanischen" Universalismus und eines generalisierten "Zeugenkollektivs".

Diese Angleichung, so argumentieren die beiden Autoren, ist zum einen auf die Zäsur von 1989 zurückzuführen: Für Deutschland, die USA und Israel ist die Nachkriegszeit damit abgeschlossen.

Dieses "Ende der Nachkriegszeit" wird zum Auslöser für eine neue Gedächtniskultur, die aus dem Holocaust eine moralische Verantwortung für die Zukunft ableitet, indem sie die Opfer individualisiert und damit universalisiert: Der Platz des Opfers kann potenziell von jeder verfolgten Menschengruppe eingenommen werden.
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Holocaust und Popkultur
Diese "kosmopolitisierte" Gedächtnisform entstand nicht zuletzt durch die zahlreichen Holocaustfilme der letzten Jahre: Levy und Sznaider verweisen insbesondere auf "Schindlers Liste". Das Kino und die Massenmedien haben zu einer Emotionalisierung und Demokratisierung der Holocausterinnerung geführt und die Verantwortung für das "Nie Wieder" an die Individuen zurückgegeben.

Fernsehen, Kino, Schriftsteller und Zeitungen haben den Staat und die Geschichtswissenschaft als die zentralen Instanzen der Deutung von Geschichte abgelöst. Levy und Sznaider sprechen anlässlich der Spielbergschen Videostiftung von einem "Pakt zwischen Populärkultur und Überlebenden, der sowohl staatliche Institutionen als auch Experten ausschließt".
->   Survivors of the Shoah Visual History Foundation
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Aus Opfern und Tätern werden Zeugen
Diese "Amerikanisierung" der Erinnerung bringt ein weiteres Subjekt ins Spiel: den Zeugen. Der "Zeuge" ist weder Opfer noch Täter, sondern eine Figur irgendwo zwischen diesen beiden Polen.

Die Verbildlichung des Holocaust, aber auch Bücher wie "Hitlers willige Vollstrecker" von Daniel Goldhagen wenden sich nicht an Opfer oder Täter, sondern an die Nachfolgegenerationen, denen sie die Zeugenrolle anbieten.

Diese Rolle wird nicht durch Verantwortung oder Schuld konstituiert, sondern durch das moralische Urteil, es ist eine scheinbar unpolitische Aufforderung zur Solidarität.
Normalisierungspolitik
Dass diese Zeugenrolle denn doch so unpolitisch nicht ist, sondern vielmehr zu einem Einsatz in den politischen Kämpfen der Gegenwart wird, sehen auch Levy und Sznaider. Die nicht zuletzt durch verschiedene soziale Bewegungen vorangetriebene Entkontextualisierung des Holocaust hat auch die "Normalisierung" der Tätergesellschaft Deutschlands hervorgebracht.

Lehnte noch Helmut Kohl mit einem Verweis auf die deutsche Geschichte einen Einsatz der Bundeswehr im Golfkrieg ab, so ist es wenige Jahre später dieselbe Geschichte, die den Einsatz im Jugoslawienkrieg rechtfertigt. Folgt man Levy und Sznaider, so ist dies deshalb möglich, weil sich Deutschland eben durch diesen Verweis in ein postnationales Zeugenkollektiv einreihen konnte.

Ausschwitz, so schreiben sie, steht nicht mehr für deutschen Militarismus, sondern für das "Nichteingreifen". Und dieses trifft alle Zeugen: Amerikaner wie Deutsche. Anders herum gesagt: Das Bekenntnis zur Geschichte gebietet nicht Pazifismus, sondern den militärischen Einsatz. Gerade das Bekenntnis zu Ausschwitz ist es, das die Verwandlung der Wehrmacht in die Bundeswehr möglich machte.
Handlungsspielräume
Dieses Argument hat einiges für sich: So lässt sich auch die neu konzipierte Wehrmachstausstellung im Lichte dieser "Zeugenthese" lesen.

Hinzu gekommen ist ein Ausstellungsteil über "Handlungsspielräume". Hier sind Erzählungen von Wehrmachtsangehörigen dokumentiert, die zeigen, unter welchen Bedingungen Befehlsverweigerung möglich oder unmöglich war.

Vor dem Hintergrund des Argumentation von Levy und Sznaider erscheint dies nun als ein weiterer Beleg für die Entkontextualisierung des Holocaust: Der Ausstellungsteil wendet sich an die damaligen Täter/Opfer und heutigen Ausstellungsbesucher als verallgemeinerte Zeugen und vermittelt eine ebenso allgemeine Aufforderung zur Zivilcourage, die für praktisch jede politische Auseinandersetzung einsetzbar ist, wie sich zeigt.

Cathren Müller
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Das Buch von Daniel Levy und Natan Sznaider "Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust" ist im Suhrkamp Verlag erschienen, hat 253 Seiten und kostet 18 Euro.
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->   Mehr über den Holocaust in science.orf.at
 
 
 
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01.01.2010